Hello India. Annäherung an die indische Moderne


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„Die Vision ist ein vitaler Kunstbetrieb, der wirklich international ist, und eine engagierte Kunstgeschichte, die ihre Kompetenzen in ein neues Terrain einbringt“.  So optimistisch formulierte ich im Jahr 2000 den Abschluss meiner Dissertation „Annäherungen an den `Rest der Welt‘. Probleme und Strategien im Umgang mit ‚fremder‘ zeitgenössischer Kunst“.

Gerade Berlin, so behauptete ich, sei aufgrund seiner intellektuellen, institutionellen, demographischen und historischen Disposition geeignet, sich sowohl im Ausstellungswesen als auch in der interkulturellen kunsthistorischen Forschung zu einem experimentierfreudigen Zentrum zu entwickeln. Inzwischen erhebt das geplante Humboldt-Forum diesen Anspruch für sich und alternative Kunsträume wie etwa Savvy Contemporary leben ein wirklich internationales Miteinander auf Künstler- und Kuratorenebene vor. Haben sich meine Erwartungen also erfüllt? Wie ist es um die Annäherung an das bestellt, was ich überspitzend als „den Rest der Welt“ bezeichnet hatte?

Viele der etablierten Institutionen mit ihren umfassenden Sammlungen tun sich weiterhin schwer, den westlichen Kanon zu hinterfragen. Noch schwerer tun sie sie sich, einer kritischen Reflexion Taten folgen zu lassen. Doch die Dinge sind in Bewegung.

Einen hoffnungsvollen Anfang in Berlin macht nun die Ausstellung „Hello World. Revision einer Sammlung“. Auf der Gesamtfläche von 10.000 Quadratmeter haben Hamburger Bahnhof und Neue Nationalgalerie ihre Bestände neu zusammengestellt und durch Werke aus anderen Einrichtungen der Staatlichen Museen zu Berlin ergänzt. Mit ihrer Initiative Museum Global hatte Hortensie Völckers, Künstlerische Direktorin der Kulturstiftung des Bundes, die Initialzündung geliefert. Aus Hausmitteln sei ein solches Großprojekt allerdings kaum zu stemmen, so Udo Kittelmann, Direktor der Nationalgalerie.

Biren De, The Moment (Der Augenblick), 1964, Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst

Raus aus der Comfort Zone

Dank der finanziellen Förderung durch die Bundeskulturstiftung konnte er etwa die Kuratoren Zdenka Badovinac, Clementine Deliss, Natasha Ginwala und Azu Nwagbogu einladen, ihren „Blick von außen“ beizusteuern und das insgesamt 13 Köpfe fassende Team so um neue Perspektiven zu bereichern. Durchaus ein Wagnis, wie Kittelmann betont: „Indem wir sie unsere Institution auf den Prüfstand stellen ließen, haben wir unsere bequeme Position verlassen“.

Unbequem wird es erst einmal auch für den Besucher, der, seiner gewohnten „eurozentrischen“ Kunst-Pfade beraubt, nach einem Pack-Ende sucht. Wo beginnen, angesichts der Vielstimmigkeit, die plötzlich im Hamburger Bahnhof zu vernehmen sind?

Dass viele Stimmen auch zur Kakophonie führen können, hat 2016 die Münchner Ausstellung „Postwar: Kunst zwischen Pazifik und Atlantik, 1945-1965“ gezeigt. Zwar hatten Okwui Enwezor und seine Kollegen im Haus der Kunst konsequent die Entwicklung paralleler Modernen aufgezeigt, doch durch die Dichte der teils nur schwer vereinbar scheinenden Positionen letztlich der Kunst selber die Luft zum Atmen genommen.

Das Berliner Kuratoren-Team hingegen hat sich nach langen kontroversen Diskussionen geeinigt, einzelne Facetten der jeweiligen Fachgebiete zu beleuchten, ohne dabei den Anspruch zu erheben, in der Summe ein komplettes Bild globaler Kunst zeichnen zu wollen. Dreizehn Kuratoren, dreizehn Sichtweisen.

Die indische Moderne als gewundener Pfad

Wo also anfangen?  Spontan beschließe ich mich nach einem Blick in den Kurzführer, mich auf das Segment „Ankunft, Einschnitt. Die indische Moderne als gewundener Pfad“ zu fokussieren. Den „Rest des ‚Rests der Welt‘“ spare ich mir für spätere Besuche auf.

Bisher war meine Annäherung an die Kultur des indischen Subkontinents vor allem eine sinnliche. Von der Ausstellung im Hamburger Bahnhof erhoffe ich mir nun die Möglichkeit, mehr zu verstehen – um somit in Zukunft noch mehr zu sehen.

Bereits der Titel des von Natasha Ginwala kuratierten Ausstellungssegments weist unmissverständlich darauf hin, dass die indische Moderne eine Entwicklung voller Brüche, Widersprüche und Parallelen ist. Vor allem aber ist sie stets im Zusammenhang mit dem Begriff der internationalen Moderne zu denken, die sich für viele indische Künstler lange als nicht wirklich international erwies.

Black Art: Loslösung von „weißer“ Kunstgeschichte in Großbritannien

Vor allem diejenigen, die sich der Kunst wegen in westlichen Metropolen wie London oder Paris niederließen, litten unter dem, was sie als „institutionellen Rassismus“ wahrnahmen. In Großbritannien brachte Eddie Chambers 1981 der Begriff der „Black art“ auf: Das kapitale B war zugleich Kampfansage. Der Aktivist forderte die Afro-Kariben im Lande auf, sich von der „weißen“ Kunstgeschichte zu lösen. Dabei war für ihn der Begriff „Black Art“ keineswegs gleichzusetzen mit der Kunst von „Schwarzen“.

Bereits der 1861 geborene Künstler, Dichter und Philosoph Rabindranath Tagore hatte sich der Bevormundung durch europäische Lehrmeister selbstbewusst widersetzt. Er erinnerte daran, was „die echte Moderne“ nicht nur für westliche, sondern für alle Künstler ausmache: „Freiheit des Denkens, nicht die Versklavung des Geschmacks“.

Bei uns ist Tagore vor allem als Nobelpreisträger für Literatur bekannt, weniger als Bildender Künstler.  Tagore, der aus einer angesehenen Brahmanenfamilie stammte, reiste viel und lernte im Ausland sowohl die „Primitiven“ wie die modernen Ismen kennen. Vor allem die flächige Ästhetik japanischer Farbholzschnitte inspirierte ihn. All diese Einflüsse verschmolzen zu einem ganz eigenen Stil. Insgesamt schuf Tagore, der in Deutschland von dem renommierten Galeristen Ferdinand Möller vertreten wurde, 2.500 Arbeiten. Auch die Nationalgalerie hatte Werke Tagores besessen. Diese verschwanden jedoch aus den Beständen, nachdem die Nationalsozialisten sein Werk als „entartet“ gebrandmarkt hatten.

Tagore-Klassische Moderne: Wer beeinflusste wen?

Trotz der eigenständigen Entwicklung Tagores hält sich die Überzeugung, seine Kunst sei vor allem von europäischen Strömungen beeinflusst, bis heute hartnäckig. Raffael Dedo Gadebusch, stellvertretender Direktor des Museums für Asiatische Kunst in Berlin, geht stattdessen davon aus, dass Tagore sich bereits vor den Hauptvertretern der Klassischen Moderne mit den Artefakten Afrikas, Nordamerikas und Ozeaniens auseinandergesetzt hat.

Er vermutet vielmehr, dass es Tagore war, der die deutschen Künstler in den 1920er-Jahren nachhaltig beeinflusste. Umso nachdrücklicher müsse endlich die Frage gestellt werden, warum es um die indische Moderne so still geblieben sei, fordert Gadebusch in seinem Katalogbeitrag.

Avinash Chandra, Painting one, 1963 © Staatliche Museen zu Berlin, Museum für Asiatische Kunst, Photo: Thomas Bruns

Um Anerkennung im internationalen Kunstbetrieb rang auch lange der 1991 in London verstorbene Avinash Chandra, der in der Ausstellung mit zwei Gemälden aus den Beständen des Museums für Asiatische Kunst vertreten ist. Die Bilder zeigen übereinandergeschichtete runde Formen und Körper mit deutlich erotischen Konnotationen.

Als erster indischer Künstler stellte Chandra auf der documenta (1964) aus und verkaufte ein Werk an die Tate Britain (1965). Der Künstler und Kritiker Rasheed Araeen monierte 1988 in „The Third Text“, dass die Kunstgeschichte Chandra dennoch keinen Platz einräume. „Viele Kritiker(innen) haben in der Vergangenheit den Versuch unternommen, sein ‚Indischsein‘ irgendwie in die Moderne einzupassen. Aber hat denn die hohe klassische Moderne Platz für das Andere?“ Vor allem dann, wenn das Andere sich anschicke, in den eigenen Zentralbereich vorzudringen, und für sich in Anspruch nehme, ein historisches Subjekt zu sein.

Berlin und Kalkutta: Subversiver Widerstand

Gleichberechtigt einander gegenübergestellt sind in der Ausstellung die politischen Karikaturen Gaganendranath Tagores, ein Neffe Rabindranath Tagores, und George Groszs, die beide Anfang der 1920iger-Jahre entstanden. Während Grosz Militarismus und religiösen Konservatismus in Berlin anprangert, ironisiert Tagore die Dekadenz der Eliten in Kalkutta, das Kastenwesen und die Folgen der Kolonialisierung. Unabhängig voneinander nutzten Künstler das Mittel der Subversion, um in ihrem jeweiligen Land den Finger in die Wunde zu legen.

Ein Künstler, der bereits zu Lebzeiten zum internationalen Star des Kunstbetriebs wurde, ist Anish Kapoor. Seine Bodeninstallation „1000 Names“ entstand, nachdem er nach dem Studium in London nach Indien zurückgekehrt war und sich intensiv mit der Kultur des Heimatlandes auseinandersetzte. Die Skulptur aus roten Pigmenten, die sich im Besitz der Sammlung Marx befindet, bildet nun die Mitte eines Raumes abstrakter indischer Malerei, die den religiös-philosophischen Ansatz des Tantras reflektiert. Kapoor – ein indischer Künstler? Oder einfach ein zeitgenössischer Künstler? Diese Frage muss der Besucher selber beantworten.

Zwar sprechen die Arbeiten in ihrer Ästhetik durchaus für sich – für manche jedoch fehlt uns schlichtweg der kulturelle Kontext. Wir gehen einen ersten Schritt, um dann schnell an unsere kulturell bedingten Grenzen zu stoßen. Mit ihrem Ausstellungssegment wirft Natasha Ginwala viele, viele Fragen auf. Die Wandtexte unterstützen den unkundigen Besucher nur elementar. Umso mehr ist er gefragt, selber Querverbindungen zu ziehen, Wissenslücken zu schließen. Klischees zu widerlegen, Klischees bestätigt zu sehen. Vor allem aber, der Erzählung der Kuratorin aufmerksam zu folgen.

Diese zitiert gerne den Schriftsteller Chinua Achebes: „Solange die Löwen nicht ihre eigenen Historiker haben, werden die Jagdgeschichten weiter die Jäger verherrlichen“. In diesem Sinne: Gut gebrüllt, Löwin!

Ausstellungslaufzeit noch bis 26. August 2018

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