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Florierende Hoffnung: Die Gärten der Favelas

Gemeinschaftsgarten Sapopemba in der Favela Jardim Tietê
Gemeinschaftsgarten-Sapopemba-in-der-Favela-Jardim-Tietê, Fotos: STÄDTE OHNE HUNGER

„Wenn ich morgens hier ankomme, nehme ich als erstes meinen Hut ab, schaue in den Himmel und sage Gott und meinen Pflanzen guten Tag“. Genival de Farias schreitet die Beete des Gemeinschaftsgartens Sapopemba entlang: Grünkohl, Kopfsalat, Spinat, Koriander, rote Beete, Karotten, Frühlingszwiebeln, soweit das Auge reicht. „Wie geht es Euch, meine Kinder?“ fragt der Rentner und seine Stimme wird weich.

Der Gemeinschaftsgarten, in dem de Farias arbeitet, um seine kärgliche Pension aufzustocken, befindet sich in der Zona Leste, dem sozialschwachen Osten der brasilianischen Riesenstadt São Paulo. De Farias und seine Mitgärtner verkaufen ihre Ernte zu einem Preis, der weit unter dem des Supermarktes liegt. Almosen verteilt der Gemeinschaftsgarten ganz bewusst nicht. Doch für die Kunden aus den Armenvierteln ringsum, ist der günstige Zugang zu gesunden Lebensmitteln von großem Wert.

Das Gärtnern ist für de Farias viel mehr als nur ein Zuverdienst. Er ist dankbar, sich um „Mutter Erde“ kümmern zu können anstatt wie viele Menschen aus der Favela „rumzuhängen und Cachaça zu trinken“. „Hier im Garten leben wir das Leben“, philosophiert er.  „Es ist kein Vegetieren. Wir erleben das Leben. Und wir ermöglichen das Leben“.

Der Nutzgarten ist einer von inzwischen 25 ökologisch betriebenen Gemeinschaftsgärten der Non Profit Organisation „Cidades sem Fome“ (Städte ohne Hunger), die der deutschstämmige Brasilianer Hans Dieter Temp im Jahr 2004 gründete. Dem Betriebswirt und Techniker für Landwirtschaft und Umweltpolitik war damals die Idee gekommen, als er den Blick aus seiner Wohnung auf eine zugemüllte Brache in der Zona Leste schlichtweg nicht mehr ertrug.

Gemeinschaftsgarten São Mateus vorher

So gibt es in der Peripherie São Paulos zahlreiche Flächen, für die kein klar umrissenes Nutzungskonzept existiert. Handelt es sich um größere Freiflächen, entstehen dort häufig illegale Siedlungen (Favelas). Kleinere Flächen werden aufgrund der mangelhaften öffentlichen Abfallentsorgung oft zu inoffiziellen Müllhalden. „Es ist wichtig, dass auch die Brasilianer beginnen, sich mehr um den städtischen Raum zu kümmern. Der ökologische Anbau sollte in den urbanen Raum integriert werden. Nahrung muss nicht unbedingt in ländlichen Gebieten auf riesigen Flächen mit hohen Investitionen erzeugt werden.“ Temp fragte bei den Behörden nach und handelte für die öffentliche Fläche eine Nutzungsvereinbarung aus.

Jede der Gartengründungen verläuft nach demselben Prinzip. Erst wirbt die Organisation die Mittel ein und verhandelt, sofern die Flächen geeignet sind, eine Nutzungsvereinbarung. Ist dieser unter Dach und Fach wählen Temp und seine Mitarbeiter Freiwillige aus der Nachbarschaft aus, die den Garten anlegen.

Gemeinschaftsgarten São Mateus nachher

Temp war nach einer landwirtschaftlichen Ausbildung in Baden-Württemberg voller Anregungen in sein Heimatland zurückgekehrt. Beeindruckt hatten ihn in Deutschland vor allem die hocheffiziente Landbewirtschaftung und der Umgang mit öffentlichen Grünflächen.

Die Bilanz kann sich sehen lassen. Sei 2004 haben 115 Menschen eine Arbeit übernommen, von der ganze Familien profitieren: Die Teilnehmer der Gartenprojekte gewährleisten den Lebensunterhalt von 650 Personen. Durch 48 Kurse konnten 1000 Menschen landwirtschaftliche oder kaufmännische Grundkenntnisse erwerben. Noch beachtlicher werden diese Zahlen angesichts der Tatsache, dass die Organisation neben drei Festangestellten vor allem von Ehrenamtlichen am Laufen gehalten wird.

Zwei Millionen Menschen in der Megacity São Paulo befänden sich in einer prekären Situation“ resümiert Temp. „Menschen, die 50 Jahre oder älter sind, haben auf dem offiziellen Arbeitsmarkt keine Chance mehr. Sie sind sozial nicht abgesichert und werden kaum oder gar nicht durch Regierungsprogramme unterstützt“.

Ziel der Organisation „Cidades sem Fome“ sei es daher, Arbeitsplätze, Einkommen und Nahrungssicherheit zu schaffen, um die soziale Eingliederung gesellschaftlicher Randgruppen voranzutreiben. Die Tatsache, dass die Teilnehmer in Arbeit sind, gebe ihnen Würde, betont Régis Eder Neu, der wissenschaftliche und technische Leiter der Organisation, „Sie fühlen sich dadurch wertgeschätzt, dass sie etwas Gutes für andere tun“.

Gleichzeitig leisteten die Gemeinschaftsgärten, Schulgärten und Gewächshäuser einen elementaren Beitrag zur Verbesserung der Ernährungssituation von Kindern und Erwachsenen.

Zwar werde ein Drittel des brasilianischen Bruttoinlandproduktes durch die Agrarwirtschaft produziert, diese Nahrungsmittel – allen voran Zuckerrohr und Soja – jedoch vor allem als Rohstoffe gehandelt. So gelangten die meisten Lebensmittel nicht auf den Tisch der Arbeiter oder der brasilianischen Familien.

Ein zweiter wichtiger Pfeiler von „Cidades sem Fome“ sind neben den Gemeinschaftsgärten die Schulgärten. Auch hier sprechen die Zahlen für sich: Bislang wurden 40 Gärten in öffentlichen Schulen und Institutionen errichtet und über 14.500 Schüler waren in das Projekt involviert.

„Die meisten unserer Kinder kommen in der Schule an und fürchten sich regelrecht, ‚Grünzeug‘ zu essen,“ erklärt Temp. So mussten die Kinder aus den sozial schwachen Regionen, die nicht selten an Mangel- und Fehlernährung litten, den Zugang zu gesunden Lebensmitteln erst einmal lernen. Ein Großteil der Ernte ergänzt die Schulmahlzeiten. Gleichzeitig führt das Projekt, das Lehrer und Eltern einbindet, die Kinder an Themen wie den Umgang mit der Natur und Umweltschutz heran.

Sichtlich stolz präsentieren die Schüler die imposanten Salatköpfe, die sie heute mit nachhause nehmen dürfen. „Schauen sie sich nur diese Kinder an. Ich wäre gerne eine kleine Ameise oder Fliege, um zu sehen, wie die Eltern sie in Empfang nehmen,“ freut sich Temp.

Neben Gemeinschafts- und Schulgärten setzt „Cidades sem Fome“ auf Gewächshäuser, die mit lokalen Materialien gefertigt werden, was die Kosten um die Hälfte senkt. Sie sichern die Ernte und damit die Einkommen. Bisher sind es sieben Gewächshäuser, zwei weitere befinden sich in Planung.

Inzwischen wirkt die durch Spenden finazierte Organisation auch über die Megacity hinaus. In der landwirtschaftlich geprägten Kleinstadt Agudo in Rio Grande do Sul, dem südlichsten Bundesstaat Brasiliens und der Heimat Temps, sucht „Cidades sem Fome“ nach einer sozialen, ökologischen und profitablen Alternative zu Monokultur. Viele der Bauern hatten sich auf den Tabakanbau beschränkt und kämpfen nun mit den daraus resultierenden ökologischen, gesundheitlichen und finanziellen Problemen. Aktuell werden drei Landwirte zu Multiplikatoren einer neuen landwirtschaftlichen Praxis ausgebildet, die auf Diversifikation durch Mischkulturen setzt. Es ist ein Weg raus aus der Abhängigkeit von den Tabakkonzernen, hin zur Autonomie.

Um zusätzliche Einnahmequellen zu erlangen, werden die Landwirte beim Bau eines Gewächshauses und der Anlage eines Fischteichs unterstützt. Auch ist ein gemeinschaftlicher Pool an Landmaschinen geplant sowie die koordinierte Vermarkung der landwirtschaftlichen Erzeugnisse. Gemeinsam angeschaffte Fahrzeuge etwa sollen die elf Städte im Umkreis von Agudo mit Bio-Produkten beliefern. Außerdem ist ein Fond geplant, in den die Kleinbauern einen Teil der Gewinne einzahlen, damit sich das Projekt langfristig eigenständig finanzieren kann.

Das, was in der Entwicklungshilfe häufig thematisiert, aber viel zu selten umgesetzt wird, gelingt in allen vier Projekten von „Cidades sem Fome“ ganz selbstverständlich und im wahrsten Sinne des Wortes „organisch“. Esther K. Beuth-Heyer, Vorstandsvorsitzende des Vereins Städe ohne Hunger Deutschland e. V. in Berlin bringt es auf den Punkt: Ob in São Paulo oder im Süden Brasiliens, die Menschen haben erkannt – Hilfe zur Selbsthilfe gelingt nur in der Gemeinschaft.

Städte ohne Hunger: Weitere Informationen

 

 

 

 

 

Tags : Cidades sem FomeEsther K. Beuth-HeyerGenival de FariasHans Dieter TempStädte ohne Hunger