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„Visionen gestalten“ – eine Rezension

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SOLARKIOSK, ©SOLARKIOSK AG

„Visionen sind keine Spinnereien“. Davon ist Elisabeth Hartung überzeugt. Und das kommt in ihrem Reader klar zum Ausdruck, der im März beim Stuttgarter Verlag avedition erschienen ist: „Visionen gestalten. Neue interdisziplinäre Denkweisen und Praktiken in Design und Architektur“. Hartung interviewte Designer, Künstler, Architekten, Philosophen und andere Menschen, die „frischen Wind erzeugen und überraschende Ausblicke eröffnen“, zu ihren Vorstellungen davon, wie die Zukunft zu gestalten sei. Herausgekommen ist ein vielstimmiges und auf eigene Art stimmiges Panorama von visionären Ansätzen und Arbeiten.

Die Zukunft als Wille und Vorstellung

Cover Visionen gestalten, avedition

Elisabeth Hartung leitet die PLATFORM, ein Pilotprojekt der Stadt München, das neue Formate des Dialogs und Experimente erprobt. Sie versteht die Publikation, die im Zusammenhang mit einer PLATFORM-Tagung im Juni 2016 steht, als Einladung zum Handeln. Der Leser ist eingeladen, die Impulse aufzunehmen und im eigenen Kontexte umzusetzen. Und dies nicht nur mit Sorgenfalten auf der Stirn. „Die Gestaltung der Zukunft soll als etwas begriffen werden, das – bei aller Komplexität und Ernsthaftigkeit – lebendig und lustvoll sein kann“, betont Hartung.

Zu den Interviewten zählen der Produktdesigner Fritz Frenkler, für den das Design mehr ist als nur Styling. Ein Designer solle nicht nur Gestalter, sondern, zudem ein Berater von Unternehmen sein. Frenkler, der unter anderem einen Lehrstuhl für Industrial Design an der TU München innehat, spricht dem Designer die Aufgabe zu, bei der Kreation den Menschen zu vertreten.

Als Beispiel nennt er die Entwicklung eines neuen Toasters. Der Designer sollte sich fragen: Könnte der Strom auch anders erzeugt werden? Gibt es eine Möglichkeit, die entstandene Wärme nachzunutzen? „Ich möchte meine Studenten außerdem dazu bringen, Produkte zu verhindern“, so Frenkler, denn grob geschätzt funktionierten 70 Prozent der Dinge, die entwickelt werden, nicht – weder gesellschaftlich noch ökologisch: „Wir müssen eigentlich nichts Neues machen, sondern erstmal korrigieren.“

Mehr noch: Frenkler fordert, das Design zur wissenschaftlichen Disziplin zu machen. So sollte der Designer in Zukunft als Prozessmoderator zwischen den Disziplinen der Soziologie, Psychologie, Philosophie und Medizin fungieren. Vorerst fordert Frenkler die Designer jedoch auf, bewusster zu werden: „Wir, die GestalterInnen, müssen wieder sehen und denken lernen.“

„Essen ist das wichtigste Material der Welt“

 

Einen erweiterten Begriff von Design hat auch Marije Vogelzang, die das Departement Food Non Food an der Design Akademie in Eindhoven leitet. „Ich bin daran interessiert, was Essen macht und nicht, was Essen ist“, erklärt sie. So drehe sich beim Eating Design – in Abgrenzung zum Food Design – alles um den Vorgang des Essens. Im Vordergrund stehen dabei psychologische, wissenschaftliche, geschichtliche, kulturelle und gesellschaftliche Bezüge.

Vogelzang hält Essen für das wichtigste Material der Welt. Sinnlich, vergänglich, lebenswichtig. Sie sieht das Miteinander-Speisen als angenehmste Möglichkeit, Menschen wieder zusammenzubringen, die sich in einer funktionalistischen Welt vereinzeln, kaum noch berühren und allzu viele steril verpackte Fertiggerichte konsumierten: „Wir berühren Computer. Wir sind sinnlich verkümmert.“

Wie Vogelzang geben viele von Hartungs Interviewpartnern an, wie greifbar die fundamentalen Veränderungsprozesse infolge von Globalisierung und Digitalisierung für sie geworden seien.

Auf der Suche nach einfachen Lösungen

„Die Vorboten der digitalen und globalen Zukunft sind angekommen, und zwar mit einer Kraft und Geschwindigkeit, die mit ihrer Präsenz in der Praxis überraschen und mitunter beängstigen können,“ resümiert Hartung. So begäben sich die Menschen auf die Suche nach einfachen Lösungen, wie sie derzeit gerade die Populisten erfolgreich zu bedienen wüssten. Umso mehr sei das Handeln der Gestalter gefragt und die Konzentration auf den Menschen, seine Lebenspraxis und kreativen Fähigkeiten.

Solche Lösungen sind etwa das „schmale Haus“ von Andreas Meck, in dem eine Familie auf verschiedenen Ebenen lebt – und das auf einer Fläche von 4,80 x 16 Metern. Oder die „100-Euro-Wohnung“ von Van Bo le-Mentzel (YEAST-art of sharing berichtete darüber). Oder Peter Naumanns „City eTaxi“, das weder Lärm macht, noch Abgase hinterlässt.

Real gewordene Vision: Der Bleistift

©Alescha T. Birkenholz für PLATFORM, Foto: Alescha T. Birkenholz

So ist es eine besondere Stärke des Buches, dass es den Blick nicht nur in die Zukunft richtet, sondern bereits real gewordene Visionen einbezieht – angefangen beim Bleistift, der vor knapp 5000 Jahren von den alten Ägyptern erfunden wurde und bei den ersten Weltraum-Missionen an Bord war. Er ist günstig im Preis und ökologisch verträglich.

Ein anderes Beispiel ist der Solarkiosk, den GRAFT Architekten sowie der Jurist Andreas Spiess entwickelt haben und der inzwischen von Tochterunternehmen der Solarkiosk AG in sechs afrikanischen Staaten vertrieben wird. Alleine 600 Millionen Menschen in Afrika sind ohne Strom. Der Kiosk bietet nun die Möglichkeit, die notwendigsten Bedürfnisse einer Nachbarschaft zu befriedigen: Handys und Lampen können aufgeladen werden, es gibt einen Internetzugang und die Kühlmöglichkeit für Medikamente und Lebensmittel. Der Kiosk, der nach dem Baukastenprinzip funktioniert, ist leicht aufzubauen und kann jederzeit erweitert werden. Mehr noch: Er ist ein zentraler Treffpunkt, an dem Menschen zusammentreffen und Informationen teilen können.

In der Haut des anderen

Auf andere Weise bringt auch „The Machine to be Another“ Menschen nahe. Sehr nahe sogar. Wie sieht die Welt aus, wenn man sie durch die Augen des anderen sieht? Das fragte sich das Kollektiv BeAnother Lab und entwickelte eine interaktive Versuchssituation. Mithilfe von Webcams, Virtual-Reality-Brillen und Kopfhörern sowie synchron durchgeführten Bewegungen und Berührungen erlangt der Teilnehmer das Gefühl, in der Haut des anderen zu stecken.

The Machine to be another, ©BeAnotherLab, Foto: BeAnotherLab

Überhaupt liegt der Fokus nicht länger auf den materiellen Aspekten. Stattdessen rücke das, was sich nicht verändert hat, wieder in den Fokus: Sinnlichkeit, Gefühle, Kommunikation. Die Idee von Gemeinschaft, Mitgestaltung und Teilhabe sei allen Interviewpartnern gleichermaßen wichtig, erklärt Hartung. Gefragt sei eine Haltung und Praxis, die Offenheit und Neugier voraussetze, kritisch und skeptisch sei, aber auch den Mut habe zu bewahren – im steten Dialog mit den Anderen.

Für die Politik lägen hier immense Erkenntnisse und Potentiale, betont Hartung. Visionäre sind also gefragt. Denn eines macht die Publikation deutlich: Visionen sind keine Spinnereien.

 

Elisabeth Hartung (Hg.) Visionen gestalten. Neue interdisziplinäre Denkweisen und Praktiken in Design, Kunst und Architektur, avedition,  2017, 256 Seiten, broschiert. SBN 978-3-89986-263-8

 

 

Tags : Andreas MeckaveditionEating DesignElisabeth HartungFritz FrenklerMarije VogelzangPeter NaumannPLATFORM München. Neue interdisziplinäre Denkweisen und Praktiken in Design und ArchitekturVan Bo Le-Mentzel