„Den Menschen ihre Würde lassen und sie befähigen, sich selbst zu helfen “, so das Credo Hans Dieter Temps. Im Jahr 2004 rief der brasilianische Sozialunternehmer in São Paulo die Organisation „Cidades Sem Fome“ (Städte ohne Hunger) ins Leben. In Gemeinschaftsgärten bauen Menschen aus den Favelas Gemüse an und verkaufen es. Seitdem hat sich die Situation tausender Brasilianer erheblich verbessert. Im Gespräch mit YEAST- art of sharing teilt Hans-Dieter Temp seine Erfahrungen und Beweggründe.
Was war die Motivation, 2004 den ersten Gemeinschaftsgarten – gegenüber Ihrer Wohnung in der Zona Leste – ins Leben zu rufen? War es die Sehnsucht nach etwas Grün, die Lust auf frisches Gemüse? Oder hatten Sie bereits damals die Vision eines großangelegten sozialen Projektes?
Die freie, aber verwahrloste Fläche, die ich täglich sah, war tatsächlich so etwas wie die Initialzündung für die Gründung von STÄDTE OHNE HUNGER, denn ich hatte während meines vierjährigen Studiums in Deutschland eine Vorliebe für gepflegte Vorgärten entwickelt und war von der sinnvollen Flächennutzung dort begeistert.
In der Peripherie von São Paulo gibt es viele Flächen, für die kein klares Nutzungskonzept besteht. Die Folge: Diese wertvollen Flächen verkommen in der Regel zu Müllhalden.
Gleichzeitig gibt es in dieser Region der Megacity viele Menschen, die keinen Job und auch langfristig wenig Chancen auf eine Arbeit auf dem so genannten ersten Arbeitsmarkt haben.
Zudem ist die Ernährungssituation der Menschen, die in der Peripherie oder in Favelas leben, schlecht. Die Menschen dort haben wenig Geld und leiden unter der schlechten Infrastruktur. In großen Abständen werden in riesigen Supermärkten günstige, lange haltbare Produkte gekauft. Gesunde oder gar ökologisch erzeugte Lebensmittel finden sich nicht auf den Tellern dieser Menschen.
So entstand die Idee des Projekts Gemeinschaftsgärten: Menschen aus der Peripherie oder den Favelas bauen auf bis dahin ungenutzten öffentlichen Flächen Gemüse an und erzielen durch dessen Verkauf – vor Ort in den Gärten – ein Einkommen. Damit verbessert sich nicht nur die Ernährungssituation der Gemeinschaftsgärtner, sondern auch die derjenigen, die in der Nachbarschaft leben, denn in unmittelbarer Nähe kann günstiges, hochwertiges Gemüse gekauft werden
Haben Sie eine Lebensphilosophie, die Sie antreibt?
Die ‚Liebe zum Nächsten‘ war ein wichtiger Bestandteil meiner Erziehung. Schon in frühester Kindheit war es mir wichtig, dass es auch den anderen Kindern gut geht. Diese Haltung habe ich in das Erwachsenenleben überführt, sie ist Teil meiner DNA.
Was gibt Ihnen „STÄDTE OHNE HUNGER“ persönlich?
Menschen eine Perspektive zu eröffnen, ihnen die Möglichkeit zu geben, durch ihrer eigenen Hände Arbeit, Geld zu verdienen und ihnen damit Würde zu schenken, ist ausgesprochen befriedigend.
Gibt es auch Entwicklungen, die sie enttäuschen? (Vandalismus, Ablehnung durch Nachbarschaft…)
Die Nachbarschaft ist sehr stark in die Gemeinschaftsgärten einbezogen. Die Gärten werden schnell zum Nachbarschaftstreff. Und so fühlt sich jeder für den Gemeinschaftsgarten verantwortlich und schaut, dass es dort keinen Vandalismus gibt.
Auf Ablehnung durch die Nachbarn sind wir bislang noch nicht gestoßen. Im Gegenteil: Wir erleben Neugier und Freude über die positiven Veränderungen in der Nachbarschaft.
Warum ist Transparenz so wichtig für STÄDTE OHNE HUNGER? Wie vermitteln Sie diese glaubwürdig?
STÄDTE OHNE HUNGER in Brasilien und auch der Förderverein in Deutschland legen in der Tat großen Wert auf Transparenz. Wir möchten die Menschen in beiden Ländern zu Partnern unserer Arbeit machen. Unsere Partner und Spender sind mit den Nachbarn der Gemeinschaftsgärten zu vergleichen: Sie sind, wenn sie dies wünschen, in alle Prozesse einbezogen und sind damit Teil der weltweiten STÄDTE OHNE HUNGER-Gemeinschaft.
Wie schaffen Sie es, ein Übermaß an Bürokratisierung zu vermeiden?
In Brasilien wie in Deutschland sind die Teams sehr klein: In Brasilien hat die Organisation drei feste Mitarbeiter, in Deutschland wird die Arbeit durch einen ehrenamtlichen Vorstand und ein kleines Team Freiwilliger getragen.
Mit hohem persönlichem Engagement ist es uns gelungen, die Arbeit von STÄDTE OHNE HUNGER in beiden Ländern bekannt zu machen. Mit einem Hauptamtlichen in Deutschland ließe sich diese schneller bekannt machen. Allerdings ist dies aktuell nicht finanzierbar.
Verkürzt gesagt vermeiden wir ein Übermaß an Bürokratisierung durch schlanke Strukturen, was allerdings auf Kosten der Bekanntheit geht.
Sie setzen stark auf Networking? Können Sie ein Beispiel geben?
Im Jahr 2010 wurde STÄDTE OHNE HUNGER von einer unabhängigen Jury internationaler Experten als eines von zehn Gewinner-Projekten des “Dubai International Award for Best Practices to Improve the Living Environment (DIABP)“ ausgewählt.
Alle zwei Jahre wird dieser Preis von UN-HABITAT, dem Siedlungsprogramm der Vereinten Nationen, und der Stadt Dubai an zehn städtische Projekte vergeben, die sich dafür einsetzen, die Lebensbedingungen der Menschen in den Städten zu verbessern. Kriterien wie Innovation, soziale Integration und Nachhaltigkeit spielen für die Vergabe eine Rolle.
Über die Teilnahme sind Kontakte in den wissenschaftlichen Bereich entstanden, in Brasilien wie auch in Deutschland, wo wir beispielsweise mit der Technischen Universität eng verbunden sind.
Wir sind davon überzeugt, dass durch ein Miteinander – ein Vernetzen – mehr erreicht werden kann als durch die Aktivitäten Einzelner. Diese Überzeugung hat sich nicht nur im Rahmen verschiedener Forschungsprojekte mit Universitäten bestätigt, sondern auch in unserer Zusammenarbeit mit großen Unternehmen, denn wir konnten viel für soziale Randgruppen in São Paulo bewirken. Dies wäre uns als Drei-Personen-Team in Brasilien und als unter zehnköpfiges Ehrenamtlichen-Team in Deutschland vermutlich nicht so gut gelungen.
Auch in Deutschland gibt es seit einigen Jahren eine äußerst erfolgreiche Urban Gardening-Bewegung. In Berlin allein sind es derzeit über 100 Gemeinschaftsgärten. Hier allerdings kommen Menschen verschiedener sozialer und kultureller Herkunft zusammen. Können Sie sich solche eine soziale Durchmischung auch in São Paulo vorstellen? Bietet das Projekt Berührungspunkte zwischen den Menschen der Favelas und den Bewohnern der gehobenen Wohngegenden?
Alle unsere Gemeinschaftsgärten befinden sich in der Peripherie São Paulos, die meisten in der Ostzone der Megacity, einem sozialen Brennpunkt. Die gehobenen Wohngegenden in der Südzone der Stadt sind weit entfernt in dieser Stadt der riesigen Entfernungen. Berührungspunkte gibt es beispielsweise im Rahmen von Freiwilligentagen für Unternehmen oder bei kulinarischen Events.
Wie wecken Sie die Neugierde potentieller Spender in Brasilien? Gibt es etwas wie einen Tag der offenen Tür, kulinarische Events in den Gärten oder ähnliches?
Das Spendenverhalten von Privatpersonen ist in Brasilien anders als in Deutschland. Regelmäßige kleine oder mittlere Spenden sind selten und bieten wenig Planungssicherheit. Mit dem Crowdfunding, einer bei jungen Menschen beliebten Spendenform, haben wir gute Erfahrungen gemacht. Aber auch dies bietet wenig Planungssicherheit. Daher finanzieren wir uns in Brasilien in erster Linie durch die Teilnahme an Ausschreibungen.
Über eine intensive Medienarbeit interessieren wir Menschen an der Arbeit von STÄDTE OHNE HUNGER. Diese schließt die klassischen Medien – insbesondere TV und Printmedien – ebenso mit ein wie die Sozialen Medien. Auf unserer brasilianischen Facebook-Seite folgen uns aktuell 24.637 Menschen.
Auch über Freiwilligentage und kulinarische Events erreichen wir viele Menschen. Im April haben wir beispielsweise mit Freiwilligen von ThyssenKrupp Brasilien einen Garten auf dem Gelände der Sá Aldeias Infantis de Poá, einem SOS-Kinderdorf, in dem 90 Kinder und Jugendliche leben, aufgebaut.
Besteht Interesse der wohlhabenden Brasilianer am Gärtnern? Wäre etwa ein Community Garden in Moema denkbar?
In wohlhabenden Gegenden wie in Moema existieren quasi keine freien Flächen. Da wir für unsere urbanen Gartenprojekte größere Flächen benötigen, befinden sich die Gärten in der Peripherie São Paulos.
Was haben Sie in Deutschland über das Gärtnern gelernt?
In Deutschland habe ich ökologische Anbautechniken und innovative Methoden der Kompostierung erlernt. Zudem habe ich mitgenommen, wie Flächen optimal genutzt werden können.
In Berlin lebt jedes dritte Kind von Harz IV (Sozialtransfer), viele gehen ohne Butterbrot in die Schule oder den Kindergarten und erhalten kein warmes Mittagessen. Kann Berlin von denSTÄDTE OHNE HUNGER-Projekten in São Paulo lernen? Oder ist die Situation nicht übertragbar?
Dass Kinder ohne Butterbrot in den Kindergarten oder in die Schule kommen, erleben wir auch in Brasilien. Unterschiede bestehen im Hinblick auf das Mittagessen: Das Nationale Programm zur Schulernährung, das PNAE (Programa Nacional de Alimentação Escolar), regelt die an öffentlichen Schulen in Brasilien angebotenen Schulmahlzeiten. Dazu werden allerdings noch heute die Referenzwerte der Ernährungs- und Landwirtschaftsorganisation FAO aus dem Jahr 2001 verwendet: Danach müssen Kinder von 6 bis 10 Jahren täglich einen Energiewert von 1500 Kilokalorien durch die Nahrung aufnehmen. Bei Kindern von 11 und 15 Jahren liegt dieser Wert bei 2175 Kilokalorien.
Ganztagsschulen sind dazu verpflichtet, mindestens 70% des täglichen Nahrungsbedarfs zu decken und mindestens drei Mahlzeiten anzubieten. Dafür stehen Grund- und Mittelschulen 30 Centavos, das sind 8 Cent, pro Kind und Mahlzeit zur Verfügung.
Zudem kommt es immer wieder zu Problemen im Hinblick auf eine verlässliche und regelmäßige Finanzierung von Schulmahlzeiten. Die Gründe hierfür sieht die Landesregierung von São Paulo darin, dass das Management dreigeteilt ist, das heißt: Die Schulmahlzeiten liegen in der Verantwortung des Bundes, der Länder und der Gemeinden.
Hier setzt unser Projekt Schulgärten an, in dessen Rahmen wir bislang 40 Gärten in öffentlichen Schulen und Institutionen geplant und aufgebaut haben, um die Ernährungssituation von Kindern und Jugendlichen zu verbessern.
Das STÄDTE OHNE HUNGER-Modell ist weltweit übertragbar: Dort, wo Flächen zur Verfügung stehen, lassen sich Schul- und Gemeinschaftsgärten anlegen.
Können Sie sich vorstellen, Ihr Projekt international auszubauen?
Im Kontext des vom BMBF geförderten Forschungsprojekts Urban Agriculture as an Integrative Factor for Climate-Optimised Urban Development, Casablanca, Marokko (UAC) (2010), eines transdisziplinären Forschungsprojekts im Rahmen des BMBF-Förderprogramms ‘Future Megacities’ 2005-2014, war ich vom 27.02.-02.03.2013 in Casablanca und habe dort urbane Gärtner beraten.
In den Jahren 2016 und 2017 habe ich jeweils Vorträge an der Humboldt-Universität zu Berlin und der Technischen Universität gehalten. Im Rahmen meines Vortrags Lebenswerte Stadtquartiere: Urbane Landwirtschaft – Impulsgeber für Stadtentwicklung und Städtebau haben wir mit Wissenschaftlern der Technischen Universität Berlin und Akteuren aus Politik, Verwaltung, Wohnungsbaugesellschaften und der Zivilgesellschaft die Frage der Übertragbarkeit diskutiert – mit vielversprechenden Ergebnissen.
Was ist Ihr Traum für eine brasilianische und eine globale Gesellschaft der Zukunft?
Mein Traum ist es, Gärten nach dem STÄDTE OHNE HUNGER-Modell weltweit zu implementieren. Arbeitsplätze, Einkommen, Nahrungssicherheit: All dies beginnt mit einem Garten.
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