Wer kennt das nicht? Trauben, Äpfel und Bananen häufen sich in der Obstschale und der Kühlschrank ist voll mit Joghurts sowie Köstlichkeiten vom Italiener, die beim sonntäglichen Brunch übriggeblieben sind. In zwei Stunden kommt das Taxi zum Flughafen – endlich Urlaub. Aber wohin mit den Lebensmitteln? Der Freund, der in der Nähe wohnt, musste kurzfristig verreisen und die Nachbarn sind nicht zuhause. So bleibt notgedrungen nur die Mülltonne. Und ein unerhört schlechtes Gewissen.
Unerträglich findet auch die Londonerin Tessa Cook den Gedanken, gutes Essen wegzuwerfen. Dabei widerfährt dieses Schicksal weltweit einem Drittel aller Lebensmittel. “Meine Eltern sind Bauern. So habe ich unmittelbar mitbekommen, wie viel harte Arbeit in der Produktion der Nahrungsmittel steckt, die wir täglich essen“, erklärt die Britin. Als sie 2015 ins Ausland zog, kam ihr die Inspiration für OLIO. Am Umzugstag hatte sie jede Menge Lebensmittel übrig, die noch frisch, bzw. nicht über das Verfallsdatum hinaus waren.
Vergebliche Suche nach Abnehmern
Sie konnte sich nicht überwinden, das Essen einfach wegzuwerfen: „Und so machte ich mich auf, jemanden zu finden, dem ich die Lebensmittel geben konnte – und scheiterte kläglich. Mir schien es so verrückt, die Lebensmittel zu entsorgen, wo es doch mit Sicherheit nur ein paar hundert Meter weiter Menschen geben musste, die sie mit Freuden genommen hätten.“
Doch natürlich wussten diese Leute nichts von Tessa Cooks Angebot. Wie sollten sie auch? So kam ihr die Idee, eine kostenlose Handy-App zu entwickeln, über die Nachbarn und lokale Geschäfte und Cafés ihr überschüssiges Essen – umsonst oder gegen einen kleinen Preis – teilen können. Gemeinsam mit Saasha Celestial-One gründete sie vergangenes Jahr OLIO und appellierte an mögliche Interessenten: „Join the food sharing revolution.“
Und das funktioniert so: Die User fotografieren ihre Lebensmittel und fügen das Bild der Liste auf der OLIO-App hinzu. Die Nachbarn wiederum holen die gewünschten Produkte ab. Das kann entweder beim Anbieter zuhause, in einer eigens eingerichteten OLIO Drop Box oder an einem anderen verabredeten Ort sein.
App gegen schlechtes Gewissen
Eine dem Projekt vorausgegangene Umfrage ergab, dass es einem Drittel aller Engländer schwerfällt, Essen wegzuwerfen. Entsprechend positiv war die Resonanz auf die neue App. Diese verbreitete sich rasant. Das Pilotprojekt war erst letzten Sommer im Norden Londons gestartet. Doch bereits im Dezember gab es OLIO in ganz London und Ende Januar 2016 überall im Vereinigten Königreich. Ende Juni hatten dann schon 38 Ländern weltweit die App für sich entdeckt, darunter die USA, Kanada, Australien, Neuseeland und Südafrika.
In dieser kurzen Zeitspanne wurde die App 100.000 Mal heruntergeladen und dreimal als “beste neue App” im App Store ausgezeichnet. 425.000 Mal setzten die User sie ein – mehr als 130.000 Produkte konnten so geteilt werden. In Nord-London, von wo die Aktion ihren Ausgang nahm, konnten sogar 85 Prozent der angebotenen Lebensmittel vermittelt werden, „manchmal in Minuten“, so Tessa Cook.
Neben Privathaushalten nutzen 100 Bäckereien, Delis, Cafés, Restaurants, Biometzgereien und junge Food Labels OLIO, um zum einen der Lebensmittelverschwendung entgegenzuwirken und sich selbst als nachhaltige Organisationen zu etablieren, aber auch um ethisch orientierten und umweltbewussten Kunden zu entsprechen.
„Restlos glücklich“
In Deutschland gibt es OLIO noch nicht, aber hier sorgt bereits seit 2012 der Verein Foodsharing e. V. für die Verteilung überschüssigen Essens. Das Prinzip ist ähnlich: Auf der Internetplattform „Foodsharing.de“ können unter dem Motto „Restlos glücklich“ Privatpersonen, Händler und Produzenten Lebensmittel kostenlos anbieten oder abholen. Auch hier ist die Bilanz immens: Fast 6.000 kg Nahrung konnten bisher gerettet werden, ca. 3.000 Betriebe kooperieren mit Foodsharing und über 20.000 Freelancer unterstützen die Aktionen.
Alleine in Berlin gibt es 350 Fair-Teiler, das sind Kühlschränke in denen nicht mehr benötigte Lebensmittel von allen deponiert und abgeholt werden können. Diese sind jedoch derzeit von der Schließung bedroht, da die Berliner Lebensmittelämter die Fair-Teiler als Lebensmittelbetrieb einstufen und strenge Auflagen einführen möchten. So sollen die Fair-Teiler unter der ständigen Aufsicht einer verantwortlichen Person stehen, die alleine das Essen hineinlegen darf und das Lebensmittel muss rückverfolgbar sein. Unnötig kompliziert und nicht praktikabel, finden die Berliner Lebensmittelverteiler.
„An keinem anderen Ort wird der Einsatz von tausenden Ehrenamtlichen gegen die Lebensmittelverschwendung so torperdiert“, klagen sie. Und recht haben sie: Wie leider nur allzu oft wird den Betreibern gesellschaftsrelevanter innovativer Projekte – viele Obdachlose etwa ernähren sich mithilfe der Fair-Teiler – das Leben unnötig schwer gemacht. Wäre es nicht eine nette Abwechslung, wenn die Berliner Verwaltung diese Energie stattdessen in sinnvolle Aufgaben stecken würde? Foodsharing jedenfalls möchte sich die Einschränkung nicht gefallen lassen uns startete eine Petition, deren Inhalt sich auf der Website findet.
Da Supermärkte und andere Händler 14 Prozent der Lebensmittelverschwendung verursachen, hat Foodsharing nun die „Aktion Leere Tonne“ ins Leben gerufen. Foodsharing fordert eine gesetzliche Lösung nach französischem und wallonischem Vorbild. Immerhin ist das Wegwerfen von Lebensmitteln aufgrund der Treibhausgasemissionen ein stark umweltbelastender Faktor – durch die Abfallbeseitigung fallen für den Geschäftssektor und den Staat hohe Kosten an.
Raphael Fellmer, Gründer von Foodsharing in Berlin ist daher optimistisch: „Ich bin überzeugt, dass die Aktion Leere Tonne ein wichtiger Bestandteil sein wird, um Lebensmittel in Zukunft auf gesonderte Weise zu entsorgen. Nämlich wo sie hingehören: in unsere Mägen.“
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