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„Metamorphose“ – die Welten des Hamid Sadighi Neiriz

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Anahita Contemporary

„Trascinato“ – der Titel kommt aus dem Italienischen und bedeutet „hineingezogen“. Tatsächlich scheint die erst kürzlich entstandene Gemäldeserie „Trascinato“ von Hamid Sadighi Neiriz eine Quintessenz der künstlerischen und intellektuellen Strudel darzustellen, in die der Maler, Galerist und Sammler hineingezogen wurde.

Oder besser, in die sich der Wahlberliner bewusst hereinziehen ließ und die sich mehr oder weniger offenkundig in seinen Arbeiten widerspiegeln. Die Ausstellung Metamorphose in der Galerie Anahita Contemporary bietet derzeit einen Überblick über die verschiedenen Werkphasen.

Eine unbändige Sehnsucht, Grenzen zu überschreiten und neue Gefilde zu erforschen, habe ihn bereits angetrieben, als er sich in den 1960er-Jahren von Teheran nach Berlin aufmachte, um Architektur zu studieren, so Hamid Sadighi.

Hunger auf Erkenntnis

In Berlin entdeckte der junge Mann, der sich den Künstlernamen Neiriz gab, die Fotografie für sich. Er studierte schließlich Kunstgeschichte, Archäologie und Ethnologie – ein Studium, das vierzehn Jahre andauern sollte und etliche Exkursionen umfasste. „Die beste Zeit meines Lebens“, erinnert sich der heute 66-jährige. Im besten Sinne naiv sei er gewesen, voller Hunger auf Erkenntnis.

In dieser Zeit nahm er erstmals einen Pinsel zur Hand. Stilistisch beeinflusste ihn unter anderem die Künstlergruppe Cobra – vor allem Asger Jorn – Jackson Pollock, Joan Miro, die Surrealisten sowie Adolph Gottlieb.

Während Neiriz in den ersten Jahren noch recht kontrolliert arbeitete, werden die Bilder ab 1988 immer dynamischer, impulsiver und abstrakter. Von der Figuration macht er sich in dieser Phase, die bis 2004 andauerte, weitgehend frei. Die Bilder scheinen sich aus einem geradezu rauschhaften Akt des Malens heraus zu entwickeln. Neiriz‘ Vorgehenswiese lässt an die écriture automatique-Technik der Surrealisten denken oder aber an einen „Stream of Consciousness“, wie der irische Autor James Joyce ihn im Roman Ulysses einsetzt, um den ungefilterten Gedankenfluss seines Protagonisten zum Ausdruck zu bringen.

Hamid S. Neiriz, Anahita, 2000/1

 

In diese abstrakte Phase fällt auch „Anahita“ aus dem Jahr 2000/1. Amorphe Formen in Erd- und Ockerfarben hat der Künstler mit kalligraphischen schwarzen Kürzeln überzogen. Der Betrachter vermeint, Figuren und Gesichter auszumachen, indes sind auch andere Lesarten möglich.

Der Bildtitel bezieht sich auf Anahita, die altiranische Gottheit des Wassers und der Fruchtbarkeit. Zudem ist Anahita als Vertreterin des „Weltflusses“ im besonderen Maße mit der Mazda, der Weisheit, verbunden. Auch werden der Figur martialische Eigenschaften zugeschrieben: Bereits der mythische König Haoshyangha Paradata soll Anahita um Erfolg in der Schlacht gebeten haben. Zudem gilt sie als Beschützerin der Herden, Äcker und Höhlenbewohner.

Altpersische Mythen

In vielen seiner Arbeiten bezieht Neiriz sich auf die Avesta, das heilige Buch des Zoroastrismus, einer Religion, deren Stifter Zarathustra war. Der Zoroastrismus war die vorherrschende Religion in Persien, bis mit den Arabern der Islam ins Land kam. Auch das Motiv „Wächter an der Cinvatbrücke II“ (1997) ist avestischen Ursprungs:  Die Seele des Verstorbenen muss die „Brücke der Entscheidung“ überqueren, um dann entweder in die Hölle oder in das Himmelreich einzugehen.

Schon als Kind kam Neiriz mit den persischen Mythen in Berührung, da seine Mutter ihm regelmäßig Geschichten des Dichters Firdausi vorlas. Seine Vorfahren väterlicherseits waren Nomaden, der Großvater ein Khan, ein Stammesfürst. Das magische Denken der Nomaden habe ihn beeinflusst, sagt Neiriz. Der erste antike Nomaden-Kelim, den er 1976 in Isfahan sah, habe rückblickend sein Leben verändert. Er sei frappiert gewesen von deren vitalen und expressiven Farben und Formen, von ihrer „Modernität“. Jedes Muster sei individuell und jeder Kelim nur für den Eigengebrauch gedacht. Die Formen stünden für altes Wissen. Neiriz begann, Kelime zu sammeln, setzt sich intensiv mit der almanistischen Kultur der Nomaden auseinander.

Hamid S. Neiriz, trascinato 2, 2019

Im Jahr 1980 begleitete er 16 Tage lang Nomaden auf deren Weg vom Winter- ins Sommerquartier. Jeden Abend habe eine weise Frau den Kelim ausgerollt, nachdem sie bestimmt hatte, wie das Zelt auszurichten sei: „Die Webarbeiten sind Träger einer geheimnisvollen Magie, ihre magischen Zeichnungen ein Schutz.“

Überhaupt ist es das Magische, das Numinöse, Spirituelle, das Neiriz fasziniert. Schamanen und Dämonen bevölkern seine Gemälde ebenso wie altägyptische Gottheiten oder der heilige Geist der Christen. Vor allem aber sind es Masken, die wie ein roter Faden sein Werk durchziehen. Seit Neiriz 1973 die erste afrikanische Maske in Paris sah, war er fasziniert von den Energien, die sie verkörpern. Viele seiner Bilder zeigen archaische rituelle Tänze, Rausch und Ekstase ­– nicht selten ausgeführt in psychodelischen Farben.

In „Trascinato 2“ wiederum blitzen die leuchtenden Farben unter einem Nebel auf und erinnern in ihrer Flächigkeit an die Sonnen und Gestirne Adolph Gottliebs, der gemeinsam mit Rothko und Newman nach dem Zweiten Weltkrieg das Numinöse in der Farbfeldmalerei suchte.

Subtile Ironie

Doch selbst vor dem Spirituellen macht die subtile Ironie des Künstlers nicht Halt. In einer Tanzszene hat er – erkenntlich erst auf den zweiten Blick – ausgedrückte Farbtuben eingefügt, die Brustwarzen oder männlicher Glieder ersetzten.

In „Trascinato 10“ grinst ein Fisch, der, hätte er nicht Zähne, an eine Figur Hans Arps erinnerte, den Betrachter keck an. Nie ist eindeutig sicher, wann der Künstler mit der Wahrnehmung er Betrachter  spielt, welche subtile Botschaft sich unter harmlosen Titeln wie etwa „Komposition“ verbergen mag. Es gibt unendlich viele Lesarten, die komplexen Bilder von Neiriz zu dechiffrieren. Assoziationen sind ausdrücklich erwünscht. Den Künstler freut es, wenn sich im Kopf des Betrachters eine eigene Narration entwickelt.

Hamid S. Neiriz, trascinato 8, 2019

Um zu arbeiten brauche er die Einsamkeit. Deshalb, so beschreibt Neiriz sein Schaffensritual, male er immer nur nachts, meist bei klassischer Musik und umgeben von Artefakten seiner umfassenden Sammlung an Masken, Kelims und anderen Kunstobjekten außereuropäischer Kulturen.

In eine Schublade wie beispielsweise die Kategorie „iranischer Künstler“ mag Neiriz sich nicht sperren lassen. Ihn, den Kosmopoliten, der über dreißig Jahre lang eine Galerie für außereuropäische Kunst am Kurfürstendamm betrieb und immer ein leidenschaftlicher Sammler war, interessieren andere Dinge.

Derzeit ist er gemeinsam mit der Künstlerin Maria Magdalena Cichon zu Gast bei einem „Meister und Schüler“-Residency-Programm in China. Gemeinsam sollen die Vertreter aus Berlin dort Studenten ihre Maltechnik vorführen. „Da wird es wohl nichts mit der Einsamkeit“, scherzt Neiriz. Was ihn jedoch nicht davon abhalten wird, sich in die Situation voll und ganz hereinziehen zu lassen.

Ausstellungsdauer bis zum 24. April

Anahita Contemporary

Schlüterstr. 14

10625 Berlin

 

Tags : Anahita ContemporaryHamid Sadighi Neiriz