Perfektes Museumswetter, grau und verregnet. Eingetaucht in trübes Licht, erscheinen mir die Dinge seltsam einerlei an diesem Sonntagnachmittag in Berlin. Die Konturen lösen sich auf, die Orientierung dämmert weg. Zeit für eine klare Haltung – und ein perfekter Anlass, um sich im Hamburger Bahnhof die aktuelle Adrian-Piper-Ausstellung anzusehen: „The Probable Trust Registry: The Rules of the Game #1- 3“.
Ein optisches Spektakel wird es nicht, so viel vorweg. Die Konzeptkunst-Pionierin gibt dem Publikum weniger zu sehen auf, zu denken dafür umso mehr. Und so habe ich mich darauf eingelassen, einen Vertrag abzuschließen. Einen Vertrag mit mir selbst.
I will always mean what I say
In den von Piper formulierten Verträgen, die an drei Schaltern in der Museumshalle aushändigt werden, verpflichte ich mich dazu, ethischen Prinzipien wie Ehrlichkeit und Verbindlichkeit zu folgen. Ohne Wenn und Aber. „I will always mean what I say“, zählt zu diesen Vorsätzen, die in mattgoldenen Buchstaben an der Wand prangen und im jeweiligen Vertrag wiederholt werden, ebenso wie „I will always do what I say I am going to do“ und „I will always be too expensive to buy“.
Wer meine Vertragstreue überwacht: Ich. Wer im Zweifel darüber richtet: Ich. Wann habe ich mir in dieser Intensität die Frage nach der Moral meines Tuns zuletzt gestellt? Es muss schon eine Weile her sein, gestehe ich mir ein.
Die Einträge aller Besucher werden in einem Verzeichnis erfasst, dem „Probable Trust Registry“, dem „Verzeichnis der wahrscheinlich Vertrauenswürdigen“. Am Ende der Ausstellung, die mit den Bundestagswahlen im September endet, kommt dieses alphabetisch sortierte Verzeichnis allen Teilnehmern zu. Wer etwa die Spielregel Nr. 2 – immer zu meinen, was man sagt – unterschrieben hat und Kontakt mit einem anderen Unterzeichner aufnehmen möchte, kann dies über die Nationalgalerie-Staatliche Museen zu Berlin machen, sofern dieser einstimmt. Schon in den Schlangen vor den eleganten, ovalen Schaltern kommt es zu spontanen Gesprächen zwischen den Wartenden.
Verlust von Anstand und Fairness
Aktueller könnte diese Ausstellung kaum sein. Gerade in diesen Tagen, da Populisten den Takt vorgeben, Fake mit Fakten mischen und einen diffusen Zorn anstacheln. Wenn jede Hemmung fällt, wenn Anstand, Fairness und Empathie zunehmend für obsolet erklärt und rückmarkgesteuert alle humanistischen Werte verhöhnt werden, dann ist es Zeit, sich zu bekennen, seinem ethischen Kompass zu folgen und sich mit anderen, die dies tun, zu vertragen. Zu nichts weniger ruft Piper auf.
Seit 2005 lebt die 1948 in New York geborenen Adrian Piper, die es konsequent ablehnt, in der Öffentlichkeit über ihre Kunst zu reden und daher auch der Pressekonferenz und Vernissage fernblieb, in Berlin. Die Kunst soll für sich sprechen, so die rhetorisch durchaus begabte Künstlerin. Für „The Probable Trust Registry: The Rules of the Game #1–3“ wurde die Philosophin und Konzeptkünstlerin 2015 mit dem Goldenen Löwen auf der Biennale in Venedig ausgezeichnet. Seitdem ist sie international stark nachgefragt: Im kommenden Jahr hat das Museum of Modern Art in New York eine umfassende Retrospektive vorgesehen, die Schau in Berlin ist die erste museale Ausstellung in Deutschland.
Neugierig schiele ich zu den Neuankömmlingen am Tresen. Was wohl in deren Köpfen vor sich geht? Und kann durch ein partizipatorisches Kunstprojekt die Welt ein bisschen demokratischer, ein bisschen „besser“ werden? Hilft es, wenn wir zusammenrücken, uns bekennen? Ich jedenfalls möchte es glauben.
Hamburger Bahnhof, Invalidenstr. 50–51
Di bis Fr 10–18 Uhr, Do 10–20 Uhr, Sa / So 11–18 Uhr.