RomArchive, das digitale Archiv der Sinti und Roma – gefördert durch die Kulturstiftung des Bundes – wird ab Oktober 2018 Künste und Kulturen der Sinti und Roma sichtbar machen und ihren Beitrag zur europäischen Kulturgeschichte veranschaulichen. RomArchive schafft durch von Roma und Sinti selbst erzählte Gegengeschichten eine im Internet international zugängliche, verlässliche Wissensquelle, die Stereotypen und Vorurteilen mit Fakten begegnet.
Inhaltlich definieren 14 Kurator_innen die Darstellung und wählen exemplarisch künstlerische Beiträge für die Archivbereiche Bildende Kunst, Film, Literatur, Musik, Tanz, Theater und Drama und den interdisziplinären Bereich Flamenco aus, darüber hinaus Material zur Bilderpolitik, Selbstzeugnisse im Zusammenhang mit der Verfolgung der Sinti und Roma im Nationalsozialismus sowie wissenschaftliches Material zur Bürgerrechtsbewegung. Die auf ständigen Zuwachs angelegte Sammlung des Archivs spiegelt exemplarisch die enorme Bandbreite und Diversität von kulturellen Identitäten und nationalen Eigenheiten wider, anstatt ein realitätsfremdes Bild einer homogenen „Roma- Kultur“ zu vermitteln. Der Reichtum einer jahrhundertealten und bis in die Gegenwart überaus lebendigen und vielseitigen künstlerischen und kulturellen Produktion wird hier erstmals in diesem Umfang öffentlich sichtbar.
Die am Projekt Beteiligten – mit den verschiedenen Arbeitsgruppen etwa 150 Akteure aus 15 Ländern europaweit und darüber hinaus – bilden ein weltweites Netzwerk von Kulturschaffenden, Wissenschaftler_innen und, Aktivist_innen, die hauptsächlich zur Minderheit zählen. Sie machen RomArchive zum derzeit größten Kulturprojekt von, für und mit Sinti und Roma, bei dem die „RomaniLeadership“ konsequent umgesetzt wird: In allen entscheidenden Positionen gestalten Roma und Sinti das Archiv.
Die Kerngruppe des Projekts umfasst etwa 40 Personen, die sich regelmäßig zum inhaltlichen Austausch treffen, darunter die Kurator_innen der zehn Archivbereiche sowie der internationale Beirat, der die Kurator_innen unterstützt und die strategischen Richtlinien des Projekts bestimmt. Schon lange vor der tatsächlichen Realisierung des Online-Archivs ist RomArchive so ein internationaler Ort der intensiven Auseinandersetzung geworden. Hier kommen die verschiedensten Interessen, kulturellen Identitäten und nationalen Eigenheiten an einen Tisch – deutsche Sinti, spanische Gitanos, osteuropäische Roma und Romani Traveller aus Großbritannien – die ein gemeinsames Ziel diskutieren: Wie kann Selbstrepräsentation trotz aller Unterschiede gelingen? Wie können Gegengeschichten und Gegenbilder zu den beständig wiederholten Fremdzuschreibungen und Stereotypen geschaffen werden, mit denen alle konfrontiert werden?
Denn nicht Roma und Sinti bestimmen ihr Bild in der Öffentlichkeit, sondern in den Mehrheitsbevölkerungen herrschende Klischees, Zuschreibungen und Fremdbilder – seit jeher geprägt von einem Mischverhältnis aus Faszination und Verachtung. Positive Gegenbilder oder Aufklärung über Wirklichkeit und Kulturen von Sinti und Roma gibt es kaum. In der etwa 600-jährigen Geschichte der Roma und Sinti in Europa waren diese spätestens seit Ende des 15. Jahrhunderts fast überall zahlreichen Formen von Diskriminierung und Verfolgung ausgesetzt.
Das NS-Regime organisierte den Völkermord an ca. 500.000 Sinti und Roma, der 1982 – erst 37 Jahre nach dem Ende des 2. Weltkrieges – von der deutschen Bundesregierung als solcher anerkannt wurde. Und erst 2012 wurde in Berlin mit dem Denkmal für die im Nationalsozialismus ermordeten Sinti und Roma in Europa ein wichtiger Erinnerungsort für diese gesellschaftliche Gruppe geschaffen. Doch auch politische Erfolge haben wenig daran geändert, dass Roma und Sinti weiterhin pauschaler Diffamierung und sozialer, ökonomischer und kultureller Diskriminierung ausgesetzt sind.
Ausgrenzung und Missachtung offenbaren sich nicht zuletzt darin, dass die vielfältigen Kulturen von Sinti und Roma in europäischen Kulturinstitutionen weitgehend unberücksichtigt bleiben. Bis heute gibt es in ganz Europa kaum einen Ort, an dem sie ihre Künste, Kulturen und ihre Geschichte selbst erzählen und präsentieren können. RomArchive wird dieser Ort werden. Hier wird der Anteil, den Sinti und Roma über Jahrhunderte an den europäischen Kulturproduktionen hatten und immer noch haben – so etwa an der Musik des Flamenco oder des Balkan Brass – nun endlich als der ihre sichtbar gemacht. Die magazinhaft und sinnlich aufbereitete Archiv-Website schafft über Bilder und Geschichten einen lebendigen Einstieg für eine intensive Beschäftigung mit den Themen – für die Mehrheitsgesellschaften eine Chance, sich des Reichtums ihrer Kultur zu vergewissern, die Roma und Sinti viel mehr verdankt, als den meisten bewusst ist, für Vertreter_innen der Minderheit ein Weg, die eigenen Künste, die eigene Kunstgeschichte, die eigenen Kulturen zurückzufordern.
Im Oktober 2018 wird RomArchive veröffentlicht und im Folgenden institutionalisiert. Dann übergeben die beiden Projektinitiatorinnen Isabel Raabe und Franziska Sauerbrey die Trägerschaft von RomArchive an eine europäische Sinti- und Roma-Organisation, über die der Beirat entscheidet. Das Archiv selbst soll dann zu einer Plattform der Vernetzung werden: ein vertrauenswürdiger Anlaufpunkt, um eigene Kulturproduktion sichtbar zu machen und mit Kulturschaffenden und Wissenschaftler_innen der Minderheit in Kontakt zu treten.
Schon jetzt begleitet der Blog des Projektes (blog.romarchive.eu) die Arbeit der Kurator_innen: Regelmäßig werden hier multimediale Inhalte wie Interviews, kontroverse Diskussionen und Essays veröffentlicht sowie Hintergründe zur Projektentwicklung gegeben. Wie auch die spätere Website ist der Blog von Beginn an dreisprachig: Deutsch, Englisch und Romanes. RomArchive hat starke Partner: Die Kulturstiftung des Bundes unterstützt das Projekt mit 3,75 Millionen Euro.
Damit setzt sie ein klares Zeichen: Eine der größten öffentlichen Stiftungen Europas widmet sich der größten Minderheit Europas, erkennt den Reichtum ihrer jahrhundertealten Kultur an und macht diese besser bekannt. Vom Planungsbeginn an standen dem Projekt die European Roma Cultural Foundation und der Zentralrat Deutscher Sinti und Roma beratend zur Seite. Das Goethe-Institut unterstützt die Arbeit von RomArchive und flankiert es mit eigenen Veranstaltungen.
Die Deutsche Kinemathek – Museum für Film und Fernsehen ist Kooperationspartner für die technologische Umsetzung. Die Bundeszentrale für politische Bildung beteiligt sich an der Förderung von RomArchive und unterstützt insbesondere die redaktionelle Betreuung des Archivs ab 2020 für weitere fünf Jahre. Außerdem wird RomArchive gefördert durch das Auswärtige Amt.
Kurator_innen
Bildende Kunst: Tímea Junghaus, Kunsthistorikerin und Kuratorin (Ungarn); Film: Katalin Bársony, Filmemacherin (Ungarn); Literatur: Dr. Beate Eder-Jordan, Literaturwissenschaftlerin (Österreich); Musik: Dr. Petra Gelbart, Musikerin und Musikethnologin (Tschechische Republik/USA); Tanz: Isaac Blake, Tänzer und Choreograf (Großbritannien); Theater & Drama: Dragan Ristić, Kulturmanager, Theaterregisseur, Musiker (Serbien) und Miguel Ángel Vargas, Kunsthistoriker, Theaterregisseur,
Schauspieler, Musiker (Spanien); Interdisziplinärer Bereich Flamenco: Gonzalo Montaño Peña, Musikwissenschaftler (Spanien); Bilderpolitik: André Raatzsch, Medienkünstler und Theoretiker (Deutschland); Bürgerrechtsbewegung der Sinti und Roma: Dr. Thomas Acton, Soziologe (Großbritannien), Dr. Angéla Kóczé, Soziologin (Ungarn), Dr. Anna Mirga-Kruszelnicka, Anthropologin (Polen), Dr. Jan Selling, Historiker (Schweden); Holocaust „Voices of the Victims“: Dr. Karola Fings, Historikerin (Deutschland)
Beirat
Pedro Aguilera Cortés, Politikwissenschaftler (Spanien); Dr. Gerhard Baumgartner, Historiker (Österreich); Dr. Nicoleta Bitu (Vorsitzende), Demokratischer Bund der Rumänischen Roma (Rumänien); Prof. Dr. Klaus-Michael Bogdal (Stellvertretender Vorsitzender), Literaturwissenschaftler (Deutschland); Prof. Dr. Ethel Brooks, Soziologin (USA); Ágnes Daróczi, Kulturmanagerin (Ungarn); Merfin Demir (Stellvertretender Vorsitzender), Amaro Drom – Interkulturelle Jugendselbstorganisation von Roma und Nicht-Roma (Deutschland); Dr. Jana Horváthová, Museum für Roma-Kultur (Tschechische Republik); Zeljko Jovanovic, Roma Initiatives Office (Ungarn); Oswald Marschall, Dokumentations und
Kulturzentrum Deutscher Sinti und Roma (Deutschland); Moritz Pankok, Galerie Kai Dikhas (Deutschland); Romani Rose, Zentralrat Deutscher Sinti und Roma (Deutschland); Riccardo M Sahiti, Roma und Sinti Philharmoniker (Serbien/Deutschland); Dr. Anna Szász, Soziologin (Ungarn)
Projektinitiatorinnen: Isabel Raabe und Franziska Sauerbrey, sauerbrey | raabe gUG
Weitere Informationen: blog.romarchive.eu