„Artist of Sharing“ Stephan Kurr bewegt im öffentlichen Raum
Es sind zumeist gruppendynamische Gegebenheiten, die den in Berlin lebenden Künstler veranlassen, durch künstlerische Interventionen gesellschaftliche Strukturen aufzuzeigen. So hinterfragte er beispielsweise den Wert von Arbeit als Künstler, aber auch in der Gesellschaft, kreierte Kunstwerke als „Take Away“-Puzzle und initiiert immer wieder künstlerische Aktionen im öffentlichen Raum. Ein Projekt, das 2013 begann, ist „Eine gemeinsame Bewegung“, das er am besten selbst vorstellt:
Eine gemeinsame Bewegung
In Bildungs- und Vermittlungszusammenhängen werden oft Kennenlern- oder Rollenspiele angeboten, um eine Gruppe von Menschen zusammenzuführen, sie ins Gespräch miteinander zu bringen, Warm-Ups, um Energien zu bündeln und auf ein Thema einzustimmen. Es geht um die Dynamik einer Gruppe, ihre Interaktion und den sogenannten Spirit der möglicherweise das, was man in jenem Vermittlungszusammenhang vermitteln möchte, weiterträgt.
Die meisten Spiele ähneln einander in zweierlei Hinsicht: Sie müssen angeleitet werden, einer macht vor, die anderen nach. Oft steht man im Kreis und dennoch ist eine Hierarchie gegeben – Vormacher und Nachmacher. Zum zweiten: Die Spielregeln sind gesetzt, die Interpretationsmöglichkeiten bleiben im vorgegebenen Rahmen und Ausmaß. Das ist sicherlich gewollt. Warum sollte sich ein Spiel verselbstständigen, in Form und Dauer ausarten, wo es doch vor allem ein Mittel ist, Lern- oder Vermittlungssituationen zu unterstützen.
Einmal hörte ich von einem Spiel, das angeblich für Managertrainings angewandt wird. Es geht dabei um Führen und Geführtwerden. Die Regeln sind einfach: Alle Personen blicken in eine Richtung. Die Person die zuvorderst steht, also niemanden mehr vor sich sehen kann, leitet automatisch die Gruppe an; alle hinter ihr Stehenden ahmen sie nach. Sobald sich diese Person dreht, drehen sich alle mit ihr und jemand anderes steht ganz vorne. Nun folgen alle jener Person, bis diese sich durch eine Drehung entzieht.
Besonders gut an diesem Spiel gefällt mir die Ambivalenz der Führungsrolle. Denn der Anleitende hat keine Kontrolle über die Gruppe. Dreht er nur den Kopf, um sich über die Wirkung seines Tuns zu versichern, wenden alle den Kopf, sie wenden sich ab. Der Führende ist gewissermaßen machtlos. Man kann ihn nachmachen oder nachäffen, oder gar nichts tun, der Anleitende ist nicht Herr der Lage. Der Führer führt, so lange er bei sich ist. Er hat kein andres Mittel der Selbstvergewisserung, keinen Rückspiegel.
Für die „temporären Kunstprojekte auf der Marzahner Promenade“ führte ich unter dem Titel „Eine gemeinsame Bewegung“, dieses Spiel im Spätsommer 2013 zum ersten mal durch. Es gab einen Treffpunkt, ein kurzes Vertrautmachen mit den Regeln, aber keine weitere Begrenzung, weder zeitlich noch räumlich. Rund 20 Menschen folgten meiner Einladung, trafen sich am nördlichen Ende der Marzahner Promenade, die Bewegung begann, Passanten kamen hinzu, die Bewegung pendelte hin und her, die letzten zehn Personen verloren sich nach circa 2 Stunden im Eingangsbereich des East-Gates. Seit dem habe ich das Spiel noch drei weitere Male im öffentlichen Raum durchgeführt, jedes Mal mit einem sehr konkreten Auftrag. Zweimal im Auftrag des Berliner Senats für „Alte Mitte – neue Liebe? Stadtdebatte Berliner Mitte 2015“ mit dem Ziel, den Stadtraum rund um den Fernsehturm zu erkunden. Und zuletzt im März diesen Jahres im Auftrag des Kinder- und Jugendtheaters „Morgenstern“, deren Spielstätte, das Rathaus Friedenau, seit Mitte 2015 gleichzeitig Unterkunft für Geflüchtete und Theater geworden ist. Das Theater wollte dieses neue Miteinander hinaus auf den Breslauer Platz tragen und dort sichtbar werden lassen.
Tatsächlich ist das Angebot der „gemeinsamen Bewegung“ ein offenes Angebot. Es ist nicht nur eine Performance, ein Happening, es lässt sich ansehen, es zwingt nicht, aber es reizt zum Mitmachen, denn das Regelspiel ist leicht durchschaut. Das Reizvolle ist wohl auch, dass nichts unvorhersehbares passiert, es sei denn man initiiert es selbst. Das heißt, nur wenn man sich selbst exponiert passiert etwas, aber es gibt eine berechtigte Gewissheit, dass es passiert.
Die „gemeinsame Bewegung“ ist, wenn sie im öffentlichen Raum stattfindet, ein Spiel, das im besonderem Maße sensibilisiert, sowohl in Bezug auf die Gruppe mit der man unterwegs ist, als auch auf sich selbst und dem eigenen Agieren in dieser Gruppe. Die Besonderheit auf dem Breslauer Platz bestand darin, dass vor allem junge geflüchtete Männer aus Afghanistan auf eine deutlich ältere, bürgerliche Bevölkerung aus Berlin-Friedenau trafen. Und doch war es nichts Besonderes, denn das Spiel braucht keine gemeinsame Sprache und die Interaktion ist immer auch eine Interaktion mit sich selbst und dem Wagnis sich zu zeigen.
„Eine gemeinsame Bewegung“ ist ein schönes Bild, evoziert Tanz, Marsch, Demonstration, Prozession, Catwalk, Parade, Wettkampf usw. „Eine gemeinsame Bewegung“ ist ein sich ständiges Formen, sichtbar gleichmäßig, jedoch ohne einen ablesbaren Zweck.
Weitere Links zu „Eine gemeinsame Bewegung“ von Stephan Kurr:
http://www.kurr.org/partizipation/article/eine-gemeinsame-bewegung
http://www.publicartwiki.org/wiki/Eine_gemeinsame_Bewegung;_Stephan_Kurr
https://vimeo.com/164822834