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KSWE16 – „Du bist der Andere“ – Foodsharing rund um den Globus

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„Was gibt’s zu essen?“ – mit dieser Frage begrüßen sich die Bewohner der philippinischen Gemeinde Corcuera auf Simara Island in der südlich von Manila gelegenen Provinz Romblon. Das ist keineswegs nur eine Floskel, denn wenn der Fragende Appetit auf das Gekochte äußert, bekommt er selbstverständlich eine Portion davon ab.

Neben solchen alten Traditionen verbreitet sich ein neuer Trend, Lebensmittel mit anderen zu teilen, rund um den Globus und quer durch die politischen Systeme. „Foodsharing als kulturelle Praxis“ war auch das Thema einer Diskussionsrunde anlässlich des „Kultursymposiums Weimar 2016. Teilen und Tauschen“. Das Goethe-Institut hatte Tatiana Barchunova aus Novosibirsk, Nota F. Magno von den Philippinen und Chang Tianle aus China eingeladen, Beispiele aus ihren Ländern vorzustellen und aus soziologisch-anthropologischer Sicht zu beleuchten.

Philippinen

Fishing_in_Romblon - Lawrence RuizSo erläuterte Magno zunächst das soziale Gefüge in Corcuera, innerhalb dessen diese spezielle Form des Teilens und Tauschens praktiziert wird. Die meisten Bewohner dieser ländlichen Region versorgen sich traditionell selber, etwa durch den gärtnerischen Anbau von Reis und Gemüse oder den Fischfang. Das gesellschaftliche und wirtschaftliche Leben spielt sich vorrangig auf informeller Ebene ab, von Mensch zu Mensch, von Familie zu Familie.

Die Bewohner von Simara Island gehören überwiegend der Ethnie der Asi an und betrachten sich somit als eine große Familie. Das gekochte Essen – immer wesentlich mehr als man selber essen kann – wird mit der Gemeinschaft geteilt, nur für den Reis kommt jeder selber auf. Auch Ernteüberschüsse werden großzügig abgegeben. Ausgeschlossen sind lediglich Personen, die nach Auffassung der Asi mit einem Fluch belegt wurden: „Verhexte“ erhalten kein Essen und man nimmt von ihnen auch keines an.

Übergeordnete staatliche Institutionen sind, zumindest auf dem Land, kaum präsent. Seit jeher sind die Menschen deshalb auf besonders intakte Sozialbeziehungen zu ihren Nachbarn, Familien und Freunden angewiesen. Das prägt. In der lokalen Sprache bedeutet das Wort „kapua“ soviel wie „Du bist der andere“ oder „Der denselben Raum mit mir teilt“. Die Entsprechung im Englischen wäre „Self“. Somit setzt, wie Magno verdeutlichte, „kapua“ ein völlig anderes Verständnis von Gemeinschaft voraus als in der westlichen Welt. Das Teilen von fertig zubereiteten Speisen dient somit auch der Vertiefung, Bestätigung und Festigung der sozialen Bindungen und des Vertrauens untereinander.

Sibirien

Die russische Soziologin Tatiana Barchunova stellte drei anders gelagerte Fallstudien aus ihrer Heimat Sibirien vor.

Datschen erfreuen sich in Russland heute wie schon zu sowjetischen Zeiten großer Beliebtheit. Jede dritte Familie in Novosibirsk besitzt eine Datsche – und viele Familien nutzen eine gemeinsam. Barchunova bezeichnet die traditionellen Wochenendhäuser als „Survival Kit“, denn auf den Grundstücken wurde traditionsgemäß – und wird inzwischen wieder – das Gemüse angebaut, das es in den Geschäften entweder nicht zu kaufen gibt oder das schlicht zu teuer ist.

giardino1Aufgrund der kurzen sibirischen Vegetationsperiode wird meist wesentlich mehr angepflanzt und gesät, als der Datschenbesitzer selber konsumieren kann. So hätte ihre Großmutter, erinnert sich Barchunova, alleine an die 100 Tomaten kultiviert.

Bleibt ein Überschuss an Ernte, eingelegtem oder anders zubereitetem Essen, wird es mit den Nachbarn geteilt – und eine Gegengabe erwartet. Getrieben von den besonderen gärtnerischen Herausforderungen in Sibirien spielt auch ein gewisser Prestigewettbewerb eine Rolle: „Wer hat die schönsten Tomaten, wer die größten Bohnen, wer den leckersten Kuchen?“

Nach dem Fall des Eisernen Vorhangs habe man sich eine Weile am Westen orientiert und auch mit Zierpflanzen und Blumen experimentiert, die es in der Sowjetunion nicht gab, dies aber angesichts der Wirtschaftskrise weitgehend wieder eingestellt. „Heute ist der Eigenanbau von Kartoffeln und Gemüse leider eine Notwendigkeit.“

Doch nicht alle Sibirier haben das Glück, sich von den Gaben einer Datsche ernähren zu können. Offiziell gebe es in ihrer Stadt 15.000 Obdachlose, doch in der Realität müsse man diese Zahl mit fünf multiplizieren, erklärt Barchunova. Hier setzten Wohlfahrts- und christliche Organisationen ein. „Sie schließen die Lücke, die die Regierung hinterlässt.“ Doch auch Einzelpersonen deponieren für die Obdachlosen tagtäglich an einschlägigen Orten überall in der Stadt Nahrungsmittel aller Art: Konserven, Gemüse oder ein extra gekauftes Brot.

Neben der Wohltätigkeit gegenüber den Mitmenschen kümmern sich viele Sibirier auch um streunende Hunde und Katzen sowie die Vögel und versorgten diese mit Futter, manchmal unter erheblichen finanziellen Opfern. „Die Regierung hingegen schießt streunende Haustiere einfach ab“, so die Soziologin. Das Teilen und Tauschen hat in Sibirien also eine eigene – durch Mangelwirtschaft und Staatsversagen wie auch durch Mitmenschlichkeit geprägte – Tradition in der Bevölkerung.

China

Ein erstaunliches, stillschweigendes Agreement mit der Regierung hat die Initiative „Bejing Farmers Market“ in China geschlossen. „Unser Projekt ist absolut illegal“ bekennt die Organisatorin Chang Tianle freimütig. Wo sich mehr als 15 Personen versammeln, braucht es (nach den Buchstaben des Gesetzes) eine Genehmigung der lokalen Polizeibehörden. Und die sind in Peking wie überall in China überaus hellhörig, gerade wenn es um potenziell politische Themen geht. Der Staat verfolgt die Initiative vermutlich mit wachsamen Augen – und erkennt, welche positive Resonanz sie in der Bevölkerung findet. Denn der „Bejing Farmers Market“ erschließt mit Erfolg eine bislang in China unbesetzte Nische.

800px-Rice_grains_(IRRI)Ein Grund dafür: Der Wunsch vieler Chinesen nach mehr Lebensmittelsicherheit. Lebensmittel sind extrem billig, was allerdings seinen Preis hat: Um selber überleben zu können, müssen die Bauern zur Chemie greifen – laut Tianle fünf bis zehn Mal so intensiv wie im weltweiten Durchschnitt. Tianle und ihr Projektteam weisen einen Ausweg aus dem Dilemma – der letztlich auch im wohlverstandenen Interesse des Landes ist.

So entstand 2010 das Projekt, das leerstehende Flächen in Peking nutzt, um dort Märkte zu organisieren. Verkauft werden nur biologisch angebaute Produkte. Obwohl die Preise europäischen Standards entsprächen, sei die Bereitschaft der Chinesen, Geld für Qualität auszugeben, groß. Zahlreiche Volontäre unterstützen das Projekt bislang unentgeltlich und im Tausch gegen vergünstigte Bioprodukte.

Der Erfolg ist immens. Inzwischen gibt es mehr als 400 Märkte. Eine Win-win-Situation für die Konsumenten wie für die Landwirte und die Natur. Das Geheimnis der Initiative sei es, dass sie „die Bauern zu Helden“ mache, erklärt Chang Tianle. „Zwischen Dir und Deinem Essen ist nur der Farmer“ – so lautet das Versprechen der Initiative. Ihr Projekt finanziert sie von einer kleinen Marge, die den Produkten aufgeschlagen wird. Inzwischen auch aus dem Geld, das große Shopping-Mall-Betreiber der Initiative bieten, damit der Markt, der kaufkräftige Kundschaft anlockt, in ihren Einkaufscentern stattfindet.

Fazit: Der „Bejing Farmers Market“ stärkt die bäuerliche Landwirtschaft und versorgt bewusst konsumierende Städter mit gesunden Produkten. So bekommt auch in China die Frage einen neuen, optimistischen Klang: Was gibt’s zu essen?

Tags : Bejing Farmers MarketChang TianleFood SharingFoodsharingGoethe-InstitutKultursymposium 2016 Weimar Teilen und TauschenNota F. MagnoTatiana Barchunova