Lesen von Tür zu Tür – Annette Krauss initiierte das Read-in


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Numpang als Studium des Raumteilens

Es klingelt an der Wohnungstür, eine kleine Gruppe von Leuten bittet um Einlass, um gemeinsam einen Text in der fremden Wohnung zu lesen. Eine ungewöhnliche wie schöne Idee. Doch wie würde man wohl selbst reagieren bei solche einer Anfrage? Würde man der spontanen Lese-Session die Gastfreundschaft erweisen? Oder würden die Schlagzeilen der Nachrichten die Fantasie ankurbeln, so dass ein Misstrauen obsiegte?

Die Künstlerin Annette Krauss initiierte 2010 in Utrecht das Read-in, das kollektive Lesen als Erforschung von Leseaktivitäten in verschiedene Situationen. Read-in experimentiert mit den politischen, materiellen und physischen Auswirkungen des kollektiven Lesen. Denn was man normalerweise allein, leise und in sich gekehrt tut, erfährt in einer Gruppe, laut und öffentlich eine durchaus andere Resonanz sowohl für einen selbst als auch für das Umfeld. Read-in Classic hat dabei das Format von Tür zu Tür zu gehen, um in einer Nachbarschaft einen spontanen Gastgeber für eine kollektive Lese-Aktion zu finden. Ist dies gelungen, lesen um die fünf Personen in der Wohnung des Gastgebers gemeinsam für etwa 45 Minuten laut einen oder mehrere Texte.

Im Gespräch mit Nuraini Juliastuti von KUNCI Cultural Studies Center in der ifa-Galerie Berlin erzählten Annette Krauss und Hyunju Chung von Read-in von dem Projekt sowie über ihre Erfahrungen, Gefühle wie auch die wechselseitigen Beziehungen zwischen Gastgeber und Gast, Privat und Öffentlich beim kollektiven Lesen.

Hyunju Chung © V.Tomaschko
©Viktoria Tomaschko

„Wieso bin ich aufgeregt oder werde rot beim lauten Lesens in einer fremden Wohnung?“, fragt sich Hyunju Chung und analysiert ihre unterschiedlichen körperlichen Reaktionen, die beim kollektiven Lesen stattfinden. Sie untersucht mit diesen selbstreflexiven Fragen die Beziehung von sich selbst zur Gruppe, zum Raum und zum fremden Gastgeber und deren Auswirkungen. Denn nicht nur die Stimme, der ganze Körper wird zum Medium beim kollektiven Vor-Lesen. Annette Krauss hinterfragt hingegen die kaum aufzulösende Situation von privaten und öffentlichen Raum. Ist die Wohnung des Gastgebers privat wird sie durch das Eindringen der fremden Gruppe für die Lese-Aktion gleichzeitig zu einem zumindest halb-öffentlichen Raum. Interessant hierbei ist auch die verquickende Verkehrung der Rollen, die Gäste werden durch das kollektive Lesen zum Gastgeber ihrer Aktion während der Gastgeber seiner Wohnung zum Gast bei jener wird. Dabei behalten alle Beteiligten ihre jeweiligen „ursprünglichen“ Rollen bei. Diese Umkehrung erfährt auch die ifa-Galerie Berlin derzeit, wo das Gespräch am 26.42016 im Rahmen des Open Space von Radio KUNCI stattfand. Die online Radiostation aus Yogyakarte/Indonesien ist derzeit Gastgeber der Veranstaltungen in der ifa-Galerie und praktiziert dabei die Idee von „Numpang“ – einer Kultur des Teilens von Zeit, Raum und alltäglichen sozialen Interaktionen – in Berlin.

Die Read-ins könnten eine Art von „Numpang“ sein, doch beginnt die Limitierung schon beim Lesen selbst mit der Sprache – man hat sich hier auf Englisch geeinigt –, die nicht jeder versteht. Ebenso verhält es sich mit dem Verstehen von Text- und Lesestrukturen sowie der inhaltlichen Vermittlung. Annette Krauss räumt hierzu ein, dass alle Read-in Mitglieder aus dem akademischen Kontext kommen – „Numpang“ also aus einem bestimmten Blickwinkel für ein bestimmtes Umfeld.

Die Zeit des Read-in scheint jedoch für alle Beteiligten ähnlich unkomfortable zu bleiben, wie es die beiden Mitglieder beschreiben, denn die Situationen des kollektiven Lesens in fremder Wohnung bekommen durchaus etwas intimes.

Annette Krauss © V.Tomaschko
Annette Krauss ©Viktoria Tomaschko

Was sind hier die Erwartungen des Gastgebers, wie weit entstehen Momente des Vertrauens? In dieser distanzierten Annäherung öffnet sich gerade ein Raum zur Reflexion. „There is no such thing as an innocent reading“ zitiert Annette Krauss Luis Althussers Satz von 1970. Ein unschuldiges Lesen gibt es nicht und sie verweist auf die Textauswahl für die Read-ins Classic: Es sind prosaische, philosophische, kritische oder ironische Texte, die häusliche Situationen, Gastfreundschaft und Gesellschaftsstrukturen beschreiben und so die gesamte Situation spiegeln oder gespiegelt werden, womit die Umkehrung der Rollen noch einmal übertragen wird.

Man könnte die Read-ins Classic als Kunstaktion oder Happening bezeichnen. Hier winkt Annette Krauss jeoch ab, und sagt aus der Erfahrung heraus, „dies sei zu simple“, denn die Bezeichnung „Kunstaktion“ hat den Effekt einer Eintrittskarte, die die meisten nehmen: Heute seien die Erwartungen und Rollen für eine Kunstaktion schnell festgelegt und das Spannungsfeld der Möglichkeiten zwischen dem Klingeln und der Entscheidung zur Gastfreundschaft oder deren Verweigerung ginge verloren. Read-in Classic beschreibt sich vielleicht am Besten als ein Experiment für eine andere, nicht hierarchische Formen der Wissensproduktion und -vermittlung, die durch Unbehagen auf Offenheit stößt. In diesem Sinne täte es gut, sich öfter einmal unwohl zu fühlen.

Tags : Annette Kraussifa-Galerie BerlinNuraini Juliastuti. Radio KUNCIRead-in

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