Derzeit wird viel nachgedacht, diskutiert und debattiert über Neukonzeptionen für Museen und Kulturinstitutionen für das 21. Jahrhundert, die sowohl globale Zusammenhänge adäquat wie zeitgemäß neu sortieren, präsentieren und vermitteln als auch durch Öffnung die Teilhabe einer großen Allgemeinheit an Kultur schaffen sollten. Vielfach werden flexiblere Strukturen sowohl intern als auch nach außen hin hierbei als notwendig erachtet, wie diese zu realisieren seien bleibt jedoch bisher vage. Einige alternative Kunsträume haben das umgekehrte Dilemma: Sie erhalten sich mühsam ihre flexiblen Strukturen, ermöglichen die Teilhabe vieler, oft anderer Personenkreise als die in etablierten Häusern, müssen sich aber oft in irgendeiner Form institutionalisieren, um überhaupt weiterhin existieren zu können. Das Kunsthaus KuLe sucht umgeben von Kulturinstitutionen in Berlin Mitte nach Lösungen, wie derartige Fusionen gelingen können.
KuLe steht für Kunst und Leben und verwirklicht seit nun gut 25 Jahren tatsächlich eine avantgardistische Utopie inmitten der Großstadt.
„KuLe ist 1. eine Idee, 2. ein Haus, 3. eine Gruppe, 4. ein Verein + eine Lebensform. Die Idee KuLe ist älter als wir. Sie wurde in diesem Jahrhundert u. anderem durch Kurt Schwitters, Joseph Beuys und John Cage formuliert, geprägt und zu Diskussion gestellt.“
Handschriftlich protokolliert steht dieser Satz auf dem Konzeptpapier von 1991 und führt gedruckt in das jüngst erschienene Buch „KuLe: Kunst & Leben. Ein Haus in Berlin Mitte seit 1990“ – eine Haus-, Kiez-, Kunst- und Berlingeschichte der besonderen Art, die mit dem Fall der Mauer begann und bis heute inmitten der Auguststraße neben Schick, Hip und Teuer gelebt wird. Das Buch ist lebhafte Retrospektive, kritische Bestandsaufnahme und offener Diskussionsband zugleich. In den zahlreichen Interviews und Texten hervorragender Autor_innen sowie dem mitreißenden Bildmaterial, persönlichen Äußerungen und einem Index alternativer Kunsträume wird nicht nur jüngste deutsch-deutsche Geschichte beispielhaft lebendig erhalten, sondern auch die Frage nach einer möglichen Zukunft derartiger Off-Spaces geweckt. So appellieren die Herausgeberinnen und Mitgründerinnen Ursula Maria Berzborn und Steffi Weismann in ihrem Vorwort für das Projekt „Denkt es weiter!“, denn „wohin die Reise des sich immer wieder neu erfindenden Mikrokosmos KuLe geht“, kann dieses Buch nicht beantworten.
Begonnen hat die Verwirklichung der Utopie in der rechtsfreien Zeit nach der Öffnung der Grenze um 1989/1990 herum. Künstler_innen der damaligen Hochschule der Künste Berlin besetzten das Haus in der Auguststraße 10 aus dem Wunsch heraus, nicht nur gemeinsam künstlerisch arbeiten, sondern auch zusammen leben zu wollen. Aus der Aktion wurde ein „Langzeitexperiment“, so die Mitgründerinnen, mit dem glücklichen Umstand, dass Förderer dieser Idee früh das Haus kauften – der beste Schutz vor Investoren aller Art. Mit der Gründung eines gemeinnützigen Vereins wurde zudem eine Rechtsform geschaffen, öffentlich wie auch finanziell agieren zu können und beispielsweise Fördergelder zu akquirieren.
So konnte das Haus ab Mitte der 1990er Jahre saniert werden und zwar außergewöhnlich, nämlich die Spuren der Geschichte des Hauses erhaltend und sie nicht mit Putz und Farbe übertünchend, denkmalschützend also und künstlerisch zugleich. So sind bis heute die Einschusslöcher aus dem Zweiten Weltkrieg, das Grau der Nachkriegszeit oder der Aufbau über der dritten Etage aus den 1920er Jahren sichtbar. Im Zuge dieser Arbeiten wurde eine Trägerkonstruktion für die sogenannte Fassadengalerie installiert. Lokale wie internationale Künstler_innen, u.a. in Kooperation mit dem DAAD, nutzen diese einzigartige Gelegenheit, künstlerisch-subversive Arbeiten wie auch Performances hier im Herzen des Stadtviertels der Gentrifizierung par excellence, Touristenhochburg und schicken Galerien zu präsentieren. 16 Personen, feste Bewohner_innen und temporäre Gäste aus aller Welt, leben und arbeiten im Haus, mal kollektiv, mal einzeln, in jedem Falle immer im basisdemokratischen Austausch über im Haus stattfindende Projekte, Veranstaltungen und Aktionen.
Dieses Jahr erhielt das Kunsthaus KuLe den Preis für künstlerische Projekträume durch den Berliner Senat. Eine Anerkennung für die bisherige und Motivation für die zukünftige Arbeit und dennoch steht die Frage „Wie weiter?“ hier in den Räumen, denn im nächsten Jahr müssen die Verträge für das Haus neu verhandelt werden. Wie können die flexiblen, partizipativen, nicht hierarchischen,„alternativen“ Strukturen beibehalten oder neu belebt werden? Sind diese überhaupt von jüngeren Generationen gewollt? Will man sich annähern an bekannte Schemata von Kunstinstitution und als eine weitere einreihen? Oder gäbe es eine andere Form von Institutionalisierung?
Mit dem aus England angereisten Soziologen Robert Hollands von der Newcastle University (UK) startete KuLe hierzu im Haus erste öffentliche Überlegungen. Hollands stellte aus seiner empirischen Forschung internationale Beispiele alternativer Kunsträume ab den 1960er Jahren bis heute vor. Unterscheiden sich in der Analyse die Ansätze, Intentionen und Herangehensweise von kollektiven Kunsträumen der 60er bis 90er Jahre kaum, gründen seit etwa zehn Jahren die Künstler_innen ihre Kollektive vor allem nach pragmatischen Gesichtspunkten. Standen vorher andere Lebensmodelle, das Teilen und die Lust dazu, jeweils stark emotional und politisch intendiert, als Beweggründe im Mittelpunkt der künstlerischen Zusammenschlüsse, würden heute insbesondere dem eigenen Bedarf oder Mangel entsprechend Komplementäre gesucht. Forderungen an das Gegenüber bzw. an die Gruppe seien weit höher und spezifizierter, so Hollands bisherige Recherche.
Aus den einstigen „Wahlverwandtschaften“, wie Steffi Weismann den Beginn von KuLe nennt, werden also Zweckgemeinschaften. Eine Beobachtung übrigens, die sich auf die Flut der Start-ups, die sich anfangs ebenfalls in entlegenen Gebäuden oder Gegenden ansiedelten, wie auch Bereiche der Shared Economie übertragen ließe. Der Wunsch nach Unabhängigkeit von vorgefertigten Strukturen großer Unternehmen, mit flachen, selbstbestimmten Hierarchien und dennoch effizientem Vorwärtskommen für eigene Ziele und Leistungen erscheinen heute als Zeitgeist für gewünschte Rahmenbedingen für kollektive Arbeit.
Dem entspricht auch Robert Hollands Fazit, dass die Gesellschaft von alternativen künstlerischen Langzeitprojekten, wie KuLe eins ist, viel lernen könne und junge Generationen von ihnen inspirierend beeinflusst würden, auch wenn sich die Parameter offensichtlich verschieben. Denn sie wiesen auf einen dritten Weg jenseits von Ideologien Arbeit und Leben zu kombinieren und böten prinzipielle Rahmenbedingungen, in denen sich ein steter Wandel vollziehen könne. Dieser müsse überleben und erhalten bleiben, um immobiliengestützter Stadtentwicklung und neoliberaler Sparpolitik entgegenwirken zu können. Robert Hollands ist ganz offensichtlich begeistert vom „Langzeitexperiment“ KuLe, dessen Langlebigkeit als Künstlerkollektiv in Berlin Mitte durchaus besonders ist, denkt man die Schließungen des Tacheles oder jüngst der Linie 206. Der Abend konkretisierte immerhin die Frage von „Wie weiter?“ in die einer „Was wollen wir teilen?“
Und damit zurück zu den gewünschten flexibleren Strukturen der großen Kunstinstitutionen und den nicht gewünschten Institutionsstrukturen alternativer Kunsträume: Die Kunstprojekte der DAAD-Künstler_innen an der Fassadengalerie von KuLe beweisen vortrefflich, wie fruchtbar Kooperationen zwischen etablierter und Off-Szene funktionierten können. Gäbe es hier nicht viel mehr zu teilen für eine weit größere Teilhabe?
Langzeitexperimente bitte erwünscht.
Kunsthaus KuLe, Auguststr. 10, 10117 Berlin
Weitere Infos zum Kunsthaus KuLe
Das Buch: KuLe
Kunst & Leben. Ein Haus in Berlin-Mitte seit 1990 / Art & Life. A House in Berlin-Mitte since 1990
Herausgeberinnen / Editors: Ursula Maria Berzborn, Steffi Weismann,
396 Seiten, deutsch/englisch, / 396 pages, german/english
Verlag: Revolver Publishing Berlin, ISBN 978-3-95763-307-1
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