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WITHIN: Jenseits der Stille

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Tor Steffen Espedal/ Bergen Assembly

Wenn unsere Ohren versagen und uns die Signale der Sprache oder der Musik nicht mehr übermitteln, sind wir dann ganz ohne Gehör? Gibt es vielleicht andere Formen des Hörens als nur die, die „Normalhörende“ als selbstverständlich nehmen? Immerhin können einige Spezies auch hochfrequente Töne oder Infraschall wahrnehmen. Die Grenzen des Hörens sind wohl nicht so eindeutig, wie es scheint. Lassen sich die Grenzen des menschlichen Hörens erweitern? Etwa durch Praktiken des „Para-Hörens“, sei es biologischer oder technologischer Natur? Falls ja, wie lässt sich das praktisch umsetzen, um zum Beispiel die Möglichkeiten für Gehörlose zu verbessern? Fragen, die den Musiker Tarek Atoui seit Jahren umtreiben. 

Im Vorfeld der Bergen Assembly (September 2016) machte er sich auf die Suche nach Antworten. In Workshops mit Gehörlosen erkundet er die Grenzen des Hörens – und die Chancen, sie zu überwinden. Die Forschungen in der norwegischen Stadt Bergen sind Teil des Projektes WITHIN, das Atoui 2008 während eines Stipendiums an der Sharjah Art Foundation in den Arabischen Emiraten entwickelte.

Atoui_NordahlGriegHighschoolWorkshop2Auf das Thema des erweiterten Hörverständnisses stieß der 1980 in Beirut geborene Künstler – dem deutschen Publikum ist er vor allem seit seiner Teilnahme an der documenta 13 bekannt –  durch Gespräche mit Lehrern und Studenten der Al Amal School for Deaf Students sowie den Pariser Kuratoren Grégory Castéra und Sandra Terdjman (Council). Bereits 2014 hatte Atoui an der Gallaudet University in Washington D.C. sowie 2015 an der Berkeley University Workshops durchgeführt, in der die Teilnehmer Musikinstrumente bastelten, mit denen sich etwa niedrige Frequenzen vermitteln lassen.

Künstlerischer Fokus des Musikers, der in Reims Klang und elektro-akustische Musik studiert hat, ist die Entwicklung von elektronischen Instrumenten und Computern, wobei das menschliche Element stets im Zentrum seiner Performances und Kompositionen steht – wie nun auch in seinem aktuellen Projekt WITHIN.

test_tarek01-800x1200„Es handelt sich um kein soziales Projekt; Gehörlosigkeit wird nicht als Krankheit verstanden“, betont Grégory Castéra. So gäbe es Mitglieder der Gehörlosen-Community, die „taub“ mit großem „T“ schrieben und stolz seien auf ihre eigenen Ausdrucksformen der Gebärdensprache bzw. der Lautschrift. Der Begriff „taub“ wird von Gehörlosen oft als diskriminierend empfunden, da er früher mit „dumm“ assoziiert wurde. Der Philosoph René Descartes etwa habe „hören“ und „verstehen“ (beides im Französischen entendre) gleichgesetzt. Und auch heute noch lebten viele Gehörlose isoliert von ihren hörenden Mitmenschen – fänden keine gemeinsame Sprache.

Wie ist es, wenn der Hörsinn komplett wegfällt? Atoui fragte Gehörlose nach ihren Erfahrungen und stellen u.a. fest, dass die Verfeinerung der anderen Sinne und die Kompensation der Gehörlosigkeit durch eine Art „magic power“ lediglich ein Phantasma sei. Nach Angaben der World Health Organisation leiden fünf Prozent der Weltbevölkerung unter einer „milden“ Gehörlosigkeit. Sie unterscheidet zwischen der totalen Taubheit für alle Schallreize oder noch vorhandener Wahrnehmung einzelner Töne.

Vom 1. September bis zum 1. Oktober 2016 präsentiert Atoui die Ergebnisse seiner Recherchen und Workshops im Rahmen des Bergen Assembly, einer von der Stadt Bergen und dem Staat Norwegen finanzierten Triennale, die sich als Antithese zu den internationalen Biennalen etabliert hat. Das ist neben dem neuen Kapitel, das Atoui dem Projekt WITHIN hinzufügt, die als „Social Space“ gedachte Ausstellung „Infinite Ear“ . Als einer von drei Artistic Directors der Bergen Assembly  – neben ihm sind das freehtought und PRAXES – hatte dieser Grégory Castéra und Sandra Terdjman von Council eingeladen, Infinite Ear gemeinsam mit ihm zu kuratieren.

Als Ort dient ein mitten in der Stadt gelegenes stillgelegtes Hallenbad, das „Sentralbadet“, in dem wohl jedes Bergener Kind das Schwimmen gelernt hat, wie Grégory Castéra aus Gesprächen mit dne Eiwohnern erfahren hat. An den Projekten teilnehmen werden u.a. Carl Michael von Hausswolff, Chris Watson, Eric Lacasa, Chris Chafe, Greg Niemeyer, Jacob Kirkegaard und Thomas Lilly.

Atoui_SoundMassageWorkshop2Infinite Ear umfasst eine Serie von Klangtherapien, ein Leseprogramm mit Simultanübersetzung in die Gebärdensprache sowie eine Installation in Form eines Kabinetts mit natürlichen, kulturellen, technischen und künstlerischen Objekten – rund ums das Thema Hören. Dabei ist dieses nicht nur auf den Menschen beschränkt, sondern schließt auch das Hören von Tieren und Maschinen ein.

„Wir haben einen third space‘ kreiert“, so Castéra. „Einen Ort, der weder White Cube ist, noch im kulturwissenschaftlichen oder medizinischen Kontext steht“. Das ehemalige Restaurant des Schwimmbads wird dabei zu einem Café umfunktioniert, in dem ungewöhnliche und unerwartete Töne zu vernehmen sein werden – „order some sound“. Im ehemaligen Pool wiederum wird ein Ensemble von acht Instrumenten etabliert, die lokale Künstler und Studenten in Bergen sowie Institutionen (Berkley Center for New Media, Electronic Music Studio Stockholm etc.) angefertigt haben.

Atoui_SoundMassageWorkshop1Namhafte Komponisten und Performer – darunter Thierry Madiot – wurden eingeladen, den Instrumenten Leben einzuhauchen und ungewohnte Klänge zu entlocken. Im Rahmen von Within hatte Madiot bereits Sound Massage Workshops in der Universität von Bergen gegeben. Fühlbare Töne – auch das ist eine erweiterte Vorstellung des Hörens. Im besten Sinn ungehört.

Weitere Informationen zur Bergen Assembly

Aktuelle Berichte über das Projekt auf Yeast folgen im September 2016.

Tags : Bergen AssemblyGrégory CastéraInfinite EarSandra TerdjmanTarek AtouiThierry MadiotWithin