“Es ist ein äußerst sensibler Ort“, erklärt Anne-Laure Gestering und fügt hinzu: „Schwierige städtische Orte ziehen uns an.“ Mit ‚uns‘ meint sie das Architektennetzwerk raumlabor. Denn Gestering ist Architektin – und Betreuerin des Projektes „gärtnerei“ auf dem Jerusalem-Kirchhof an der Hermannstraße in Berlin-Neukölln.
Tomaten, Salate, Bohnen, Beeren und bunte Blumen – Geflüchtete aus verschiedenen Ländern haben zusammen mit ihren Betreuern einen Gemeinschaftsgarten angelegt. Die ca. 1.600 qm große Fläche dafür stellte der Friedhofsverband Berlin Mitte zur Verfügung. Ein gemeinschaftlich gezimmerter Steg durchquert den Garten und fungiert als Bühne, Versammlungsgelegenheit oder einfach als Brücke, um im Herbst trockenen Fußes die Beete zu erreichen. Das Projekt ist im vergangenen Jahr aus einer Kooperation von raumlabor und dem „Jugend-Kunst- und Kulturhaus Schlesische 27“ hervorgegangen, einem Verein zur Förderung der interkulturellen Jugendarbeit.
raumlabor wurde 1999 von acht Architekten gegründet und ist für seine Interventionen im öffentlichen Raum bekannt geworden. An der Schnittstelle zwischen Architektur, Stadtplanung, Kunst und Intervention sucht raumlabor stets nach neuen Möglichkeiten, um die Stadt der Zukunft zu erproben. Dabei spielt immer auch der direkte Austausch mit den lokalen „Experten“ eine Rolle. Die Anwohner werden zusammen gebracht, teilen ihre Geschichten über das zu entwickelnde Areal, erzählen aber auch von ihren Ängsten, Wünschen und existentiellen Bedürfnissen.
Aus der Teilhabe von Unterstützern, Anwohnern und Geflüchteten heraus entstand so in Neukölln ein blühender Garten Eden – an einem historisch befrachteten Ort. Denn direkt neben dem Ort, wo derzeit die von Krieg und Terror geflohenen Menschen eine neue Aufgabe gefunden haben, befand sich in der Nazidiktatur ein Zwangsarbeitslager der Evangelischen Kirche, in dem überwiegend minderjährige Männer aus der Ukraine festgehalten wurden. Nach heutigem Stand war es das einzige von der Kirche betriebene und finanzierte Lager. „Heute wird diesem düsteren Kapitel deutscher Geschichte ein zukunftsweisendes optimistisches neues Kapitel hinzugefügt“, betont Gestering.
Bereits der etwa zehnminütige Weg vom alten Steinmetzhaus unmittelbar an der quirligen Hermannstraße hin zum Garten führt durch die Geschichte. Denn der Weg geht vorbei an den aus der Nähe monumental anmutenden Leuchtfeuern des ehemaligen Flughafens Tempelhof, vorbei an der Friedhofskapelle der bulgarisch-orthodoxen Gemeinde, die 1839 als „Leichen- und Rettungsgebäude für Scheintote“ errichtet worden war.
Neben der Unterweisung im Gärtnern und Schreinern erhalten die Geflüchteten im frisch renovierten und nun mit einer Heizung versehenem Steinmetzhaus Deutschunterricht. Danach wird gemeinsam gegessen, ein Ritual, das alle Beteiligten gleichermaßen schätzen. Oft werden Gerichte aus den Heimatsländern der Geflüchteten gekocht – am liebsten mit selbst geernteten Zutaten. Das selbstorganisierte Cafe Nana befähigt die Neuankömmlinge, Gästen etwas anzubieten, ihre Kultur und kulinarischen Spezialitäten mit den Berlinern zu teilen.
Für das künstlerische Programm der gärtnerei ist Sven Seeger zuständig. „Es muss dampfen“, betont der Tänzer und Choreograph, der bevorzugt Gruppen aus verschiedenen Communities zusammenbringt. So fand 2015 ein Herbstfest mit Tanz, Performances und Lesungen statt, zu dem Seeger auch Neuköllner Bands und Vereine eingeladen hatte. Besonderen Beifall fanden etwa die „Schilleria-Girls“, eine Gruppe muslimischer Teenagerinnen aus dem angrenzenden Schiller-Kiez, mit ihrer Rap-Einlage. Zudem lädt Seeger internationale Künstler zu Workshops ein.
In der gärtnerei sollten auf kreative und partizipative Weise Möglichkeiten der Gestaltung, Toleranz und Zusammenleben erprobt werden. „Unser Programm mit den Geflüchteten ist keine Beschäftigungstherapie“, betont der Projektkoordinator Nils Steinkrauss (Schlesische 27). „Wir versuchen – vor allem auch mithilfe künstlerischer Mittel – Themen zu übersetzen und Perspektiven und Möglichkeiten aufzuzeigen“. So hat sich mehr als nur ein Gemeinschaftsgarten an einem ungewöhnlichen Ort herausgebildet: Vielmehr entstand ein Labor für die Gesellschaft.
Mehr über das Projekt „gärtnerei“
Übrigens: Das Hilfsprojekt sucht derzeit Unterstützer auf der Spenden-Plattform betterplace.org.