Gemeinsinn. Partizipation. Klarheit. Diese Begriffe fallen oft, wenn von Skandinavien die Rede ist. Wie sich „das Nordische“ in Architektur und Stadtentwicklung widerspiegelt, untersucht derzeit die Ausstellung „Nordic Urban Spaces“. Bis zum 28. September ist sie im Felleshus der Nordischen Botschaften in Berlin zu sehen.
„Funktionalität und Nachhaltigkeit, Rücksicht und Eleganz schließen sich nicht aus“, konstatiert Angela Million, Leiterin des Fachgebiets Städtebau und Siedlungswesen an der TU Berlin. „Wir möchten Anregungen für die eigene Stadt geben und Lust auf den Norden machen“, so die Professorin.
Gemeinsam mit ihren Studentinnen und Studenten hat die Professorin „Nordic Urban Spaces“ kuratiert und eine beachtliche Fülle an Projekten aus Dänemark, Finnland, Island, Norwegen und Schweden zusammengetragen. Zwar ist die Präsentation etwas textlastig, doch vermittelt sie dafür einen ausführlichen Überblick sowie vertiefende Hintergründe und Zusammenhänge. Wem das zu viel Input auf einmal ist, der kann die umfangreichen Texte auch später noch nachlesen: Zu jedem Projekt liegen Abreißblöcke mit detaillierten Informationen aus.
Kopenhagen: Bikeway über den Hafen
Eines der vorgestellten Projekte ist die 2014 von DISSING + WEITLING Architecture erbaute Bicycle Snake in Kopenhagen. Der 230 Meter lange, knallorange „Super Bikeway“ ist längst zu einer Ikone der umweltfreundlichen dänischen Hauptstadt geworden. Ähnlich wie in Berlin ist das Fahrrad ein beliebtes Transportmittel in einer bislang auf den Autoverkehr ausgerichteten Stadt. Und wie in Berlin stehen sich Rad- und Autofahrer sowie Fußgänger bisweilen unversöhnlich gegenüber.
Doch im Hafen von Fisketorvet ist von Stress keine Spur: Während die Radfahrer nun zweispurig den Hafen überqueren – und dabei einen großartigen Blick auf die Stadt genießen –, bleibt der Kaibereich den Fußgängern vorbehalten. Bis weit über Dänemark hinaus sorgte die Brücke nach ihrer Einweihung für Furore. „Es ist einer der seltenen Momente, in dem nahezu jeder in Kopenhagen glücklich ist“, resümierte The Guardian. Und das Glück soll sich noch vergrößern: Weitere Fahrradwege quer durch die Stadt sind in Planung.
West Metro Helsinki: Au revoir tristesse
„Schluss mit grau“ hat Helsinkis ÖPNV-Betreiber West Metro beschlossen und sieben Architekturbüros damit beauftragt, seine neuen U-Bahn-Stationen individuell zu gestalten. In Niittykumpu zum Beispiel weckt der Künstler Mari Rantanen die Assoziation einer Sommerwiese, indem er den Stationsnamen „Wiesenhügel“ in roten und grünen Farben umsetzte. Die Themen Energie, Bewegung, Jugend und Stärke wiederum reflektiert die überirdische Station Urheilupuisto, die an einem Stadion gelegen ist. Jede Station hat ihr eigenes Licht- und Farbkonzept. Dennoch wird die Metrofahrt, die den jeweiligen Stadtteil künstlerisch interpretiert, zu einem ästhetischen Gesamterlebnis und damit einer kleinen Auszeit im Alltag.
Dasselbe bewirkt die von Gjøde & Partnere Arkiteketr erbaute Infinite Bridge. Wer kennt nicht das Gefühl, sich immer nur im Kreis zu drehen? Dass Kreisen auch eine Wohltat sein kann, verdeutlicht die kreisrunde, „unendliche“ Brücke, die im dänischen Aarhus Strand und Wasser verbindet. Abwechselnd blickt der Spaziergänger auf die Stadt und die Bucht. Ständig verändert sich dadurch seine Perspektive. Oder aber er blickt auf die Menschen, die ihn überholen oder ihm entgegenkommen. Und wenn er mit ihnen ins Gespräch kommt, wird die hölzerne Brücke zur sozialen Skulptur.
Welche Projekte lassen sich nach Berlin übertragen?
Während der Besucher die Berliner Ausstellung durchwandert, stellt er die Frage, welche der Projekte er sich bei uns vorstellen kann. Ein ansprechendes U-Bahn-Design, eine skulptural anmutende Begegnungsbrücke, eine Radfahrerautobahn über die Spree? Oder die Institution des Tierbeauftragten, die viele nordische Kommunen in ihre Stadtplanung einbeziehen?
Vor allem eine Frage drängt sich auf: Lassen sich die eher dünn besiedelten, wohlhabenden skandinavischen Länder und das überfüllte, finanziell noch klamme Berlin überhaupt vergleichen? Ist die Situation hier nicht eine gänzlich andere?
Viele Entwicklungen erfolgen derzeit so rasant und unkontrolliert, dass sie den Bürgern – nicht selten sprichwörtlich – den Atem nehmen. Die Stadt scheint aus allen Nähten zu platzen. Der Lärm zehre derart an den Nerven, beklagt bei Eröffnungsdiskussion ein Teilnehmer aus dem Plenum, dass er es kaum noch ertrage. Die letzten 20 Jahre habe er gerne in Berlin gelebt, nun ändere sich sein Umfeld komplett zum Negativen. Ein Empfinden, dass übrigens mancher alteingesessene Berliner mit ihm teilt. Viele ziehen in die Außenbezirke oder nach Brandenburg, da sie „ihre Stadt“ nicht mehr wiederfinden oder sie sich schlicht nicht mehr leisten können.
Schwedische Städte: Proportional mehr Geflüchtete
Die Ausstellung konzentriert sich auf positive Entwicklungen im Norden und mag dadurch den Eindruck durchweg paradiesischer Zustände wecken. Doch auch skandinavische Großstädte hätten Probleme, litten unter Wohnraumknappheit und Gentrifizierung, rückt Karin Svensson vom Schwedischen Zentrum für Architektur und Design das Bild zurecht. Wie Berlin sei auch Stockholm immens gefordert, die vielen Geflüchteten zu integrieren, die dort eine neue Heimat suchten. Das sind in Schweden übrigens proportional zur Einwohnerzahl noch deutlich mehr als in Deutschland.
Auch wenn sich die Projekte nicht immer 1:1 übertragen lassen, so können Sie dennoch Impulse setzen für eigene, passende Ideen. Eine Sehnsucht jedoch lässt die Ausstellung im Felleshus übergroß werden: die Sehnsucht nach mehr Gemeinsinn, Partizipation, Klarheit. Auch bei uns.