„Stadt der Welt! (denn alle Rassen sind hier…)… Stadt der hohen Fassaden, aus Marmor und Eisen! Stolze und leidenschaftliche Stadt! Feurige, verrückte, extravagante Stadt!“. Diese Ode an New York, die der amerikanische Dichter Walt Whitman im Jahr 1900 verfasste, markiert den Auftakt zur Ausstellung „Lost in the City. Urban Life in the IVAM Collection“. Im Museum für zeitgenössische Kunst von Valencia werden das Faszinosum Großstadt und die sich darum rankenden Utopien der Moderne künstlerisch und dokumentarisch reflektiert. Ebenso die Schattenseiten der urbanen Lebenswirklichkeit und die aktuellen Tendenzen des Städtebaus.
Was ist aus den kühnen Träumen und Ideologien vom Anfang des 20. Jahrhunderts geworden? Jener fortschrittsgläubigen Zeit, in der sich vor allem die Fotografen in den Bann der Stadt ziehen ließen. So wie etwa Eduard Jean Steichen, dessen Fotografie „Flatiron Building“ von 1905 nicht nur ein Stück Architekturgeschichte eingefangen hat, sondern auch die Faszination des damals Neuen offenbart. Zwanzig Jahre später waren Gestalt und Gesicht der modernen Großstadt so neu nicht mehr, doch auf zunehmend differenzierte Weise faszinierend. Davon legt unter anderem die Fotomontage „Metropolis“ des niederländischen Malers Paul Citroen (1923) Zeugnis ab.
Leise Filmmusik im Ausstellungsraum versetzt den Besucher in die Zwanziger zurück. Sie rührt vom knapp neunminütigen Film „Scyscraper Symphony“ Robert Floreys aus dem Jahr 1928. Bagger drehen sich, die Kamera gleitet in schräger Perspektive die New Yorker Wolkenkratzer herauf und offenbart atemberaubende Perspektiven – statisch und rhythmisch-dynamisch zugleich.
Vitrinen mit Architekturmagazinen zeigen auf dem Reißbrett geplante Städte in der Sowjetunion und setzten den Zentren des Mammons die Utopien sozialistischer Städte entgegen. So unterschiedlich die Ideologien, so sehr gleichen sie sich in ihrem ungebrochenen Glauben an Fortschritt, Planbarkeit und Machbarkeit – im Glauben an eine menschengemachte bessere Zukunft.
Die Kunst des Flaneurs
Im zweiten Raum, „Strolls in the City“, bleibt die Kamera auf Augenhöhe, bringt den Mensch in den Vordergrund. Das Interesse der Fotografen wendet sich hier dem Unverhofften, Besonderen zu. Nicht zuletzt Charles Baudelaire hatte die Kunst des Flanierens en vogue gemacht, wobei Walter Benjamin von einer „Transformation des Boulevards in ein Interiéur“ sprach.
So fängt der Stummfilm der Fotografin und Filmemacherin Helen Levitt „In the Street“ das Straßenleben in Spanish Harlem im New York von 1948 ein. Verborgene 16 mm-Kameras von ihr und ihrem Team rückten vor allem die Kinder des Armenviertels in den Fokus. Doch nicht allen Zeitgenossen gefiel diese Ästhetisierung: Der Künstler Roy Arden etwa bemängelte die Präsentation „reiner Schönheit“ und die mangelnde Erläuterung des sozialen Kontextes.
Eine Serie von Lee Friedländer, aufgenommen zwischen 1963 und 1982 wiederum beobachtet Menschen, die sich in Schaufenstern oder Glastüren der modernen Fassaden spiegeln.
Zitate bedeutender Schriftsteller – von Raymond Chandler bis Italo Calvino – geben jedem der insgesamt zehn Räume ein Leitthema. In „Global Landscapes“ etwa steht der formelle Aspekt im Vordergrund, bei „Diverse Multitudes“ die Vielfalt städtischer Identitäten, bei „Imagined“ Cities die „inneren Städte“. „Städte wie Träume“, so das Begleitzitat Italo Calvinos, „sind aus Sehnsüchten und Ängsten gemacht“.
Jede dieser von José Miguel G. Cortés, dem Direktor des IVAM, kuratierten Sektionen folgt formal demselben konzeptionellen Muster: Gemälde, Skulpturen, Fotografien und Videos – zum Großteil aus der hauseigenen Sammlung, die vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zur Gegenwart reichen und Namen wie Walker Evans, Sigmar Polke, Thomas Ruff, Horacio Coppola oder Gordon Matta-Clark umfassen – werden begleitet je von einem Film sowie zahlreichen Publikationen.
Im letzten Raum „Architecture of Fear“ sind es rund zwanzig Taschenbücher – Relikte der Gutenberg-Galaxis – die von der Decke baumeln. Sie alle ankern tief im kollektiven kulturellen Gedächtnis des westlichen Bildungsbürgers und trugen dazu bei, literarisch das Gesicht europäischer und nordamerikanischer Großstädte zu prägen. „Ulysses“ von James Joyce ist da zu entdecken, „Berlin Alexanderplatz“ von Alfred Döblin, aber auch „London NW“ von Zadie Smith.
Mega-Cities des Südens
An den Wänden hingegen wird diese wehmütige Reise durch Ort und Zeit gebrochen. Hier sind es Bilder der Slumbezirke neuer überbordender Mega-Cities der südlichen Hemisphäre, so „Av. Caracas Bogota #7“ von Alexander Apóstol (2006). Bilder, die verstören. Denn sie zeigen nicht Urbanität, sondern die Tristesse der durch Überbevölkerung entstandenen Ansiedelungen. Ein Abschied auf das Ideal der Stadt europäischer Provenienz? Nicht geplant, nicht gewachsen, nur anwachsend.
Und auch die globale Wirtschaftskrise wird hier gegenwärtig, die sich in Valencia mit seinen Prachtbauten aus dem Modernisme sowie seinen futuristischen Gebäuden – allen voran der Cuidad de las Artes y de las Ciencias oder David Chipperfields America’s Cup Building – nur allzu leicht ausblenden lässt. Das „Edificio iluminado, calles Arcos de Bélen no ° August, 2003“, das beleuchtete Gebäude auf der Fotografie Santiago Sierras, zeigt keineswegs ein ins Licht gerücktes Vorzeigeobjekt, sondern stattdessen eine der zahlreichen Bauruinen, wie sie sich nicht nur in Mexiko derzeit zuhauf finden lassen.
Das letzte Wort, ein Antipode zu Whitman gleichermaßen, soll die Schriftstellerin Christa Wolf haben, die 1992 während eines Stipendiums bei der Getty Foundation in Los Angeles eine schwere persönliche Krise erlitt: „Die Stadt hat sich von einem Ort in einen Nichtort gewandelt, ohne Geschichte, ohne Vision, ohne Magie, verdorben von Habgier, Macht und Gewalt.“ Vom Optimismus des Aufbruchs der Moderne lässt dieser Ausklang nicht viel übrig.
Ausstellungsdauer: bis 14. Juni 2017