Lautstark kräht der Hahn. Zeit zum Aufstehen? Es ist längst die Spätnachmittagssonne, die den Mörchenpark an der Spree in ein gleißendes Augustlicht taucht. Definitiv scheinen die Uhren anders zu ticken auf dem Areal der ehemaligen Bar 25, wo bis 2010 das Berliner Clubvolk die Nacht zum Tage gemacht hat.
Dem Besucher, der durch die unscheinbare Tür an der Holzmarktstraße tritt, erschließt sich ein unerwartetes Idyll. Pärchen relaxen auf den hölzernen Sitz- und Liegekonstruktionen am Flussufer. Eine Gruppe Studenten diskutiert über ein Laptop gebeugt auf den Sitzgelegenheiten vor der Strandbar, während Kleinkinder eine Sandburg bauen und ein Mädchen sich auf dem Trampolin austobt. „Pampa“ heißt die Bar, eine Reminiszenz an das einstige Ödland am Todesstreifen zwischen Ost-und West-Berlin.
Ein Touristenpaar mit zwei Teeangertöchtern hat sich ebenfalls auf das Gelände verirrt. Etwas schüchtern wirkt die Familie, fühlt sich aber offensichtlich schnell willkommen und gesellt sich mit einem Eis bewaffnet zum Jungvolk am Wasser. Neugierig schauen die Eltern sich um, ihrerseits freundlich fixiert von einem riesigen Gartenzwerg mit ebenso gigantischen Kopfhörern – eine Hommage an den techno-getränkten Genius Loci? –, während Sonnenblumen in tragbaren Beeten sich ihrem gelben Pendant am Himmel entgegenstrecken. In anderen Boxen des Gemeinschaftsgartens wachsen Tomaten, Kräuter – und eben Möhren. Auf dem zukünftigen „Mörchenacker“ neben dem S-Bahnviadukt sollen weitere Gemüse- und Schulgärten entstehen. Auch gibt es bereits einen Hühnerstall und einen Bienenstock.
Ein Mörchen wird wahr…
„Es ist wie ein Märchen“, schwärmt Janna Schlender, die Vorsitzende des Vereins Mörchenpark. Man merkt, dass sie das Gesagte auch nach inzwischen drei Jahren immer noch aus ganzem Herzen fühlt. Lächelnd klärt sie die irritierende Schreibweise von „Mörchenpark“ auf. Das fehlende „h“ ist kein Opfer der deutschen Rechtschreibreform, sondern ein Tribut an die wortspielerische Symbiose aus „Möhrchen“ und „Märchen“.
Der gemeinnützige „Mörchenpark e. V.“ ist für die Gestaltung und Bewirtschaftung des von dem Projektentwickler „Holzmarkt plus eG“ zur Verfügung gestellten Uferstreifens verantwortlich. Rund 650 Mitglieder zählt der Verein inzwischen. Neben dem für interessierte Bürger und Anwohner erschwinglichen Mitgliedsbeitrag von jährlich 25 Euro finanziert sich der Verein durch Spenden. Zum Gärtnern kämen ebenso der Student der Gartenarchitektur wie die alte Dame aus den angrenzenden Plattenbauten, berichtet Schlender. Die übrigens ein Faible füreinander hätten und sich gelegentlich auf den sonst meist von Liebespärchen frequentierten Bänken niederließen, fügt sie hinzu. „Szene trifft Kiez“, das gefalle ihr sehr.

„Der Mörchenpark ist viel mehr als nur ein physischer Raum“, betont die Kultur- und Kommunikationsmanagerin, „Wir repräsentieren Berlin“. Schließlich seien es Einwohner der Stadt gewesen, die 2008 in einem erfolgreichen Bürgerentscheid dafür gestimmt hatten, die Filetstücke an den Spreebrachen in Friedrichshain-Kreuzberg, Mitte und Treptow nicht gänzlich den „Immobilienhaien“ zu überlassen. „Mediaspree versenken!“ – Mit diesem Schlachtruf wurde zumindest ein Teil der in den 1990er-Jahren geplanten, groß dimensionierten Investorenprojekte verhindert. Die Spree sollte nicht „zubetoniert“ werden, sondern ein Refugium für die Berliner, für jedermann, bieten.
Fairness, Transparenz, Partipazion
„Fairness“, „Transparenz“, „Partizipation“, „Kontrolle“ sowie „Ausgleich zwischen Kreativität und Kapital“ sind daher auch die Schlüsselworte, die sich die Holzmarkt plus eG für die Quartiersentwicklung des Uferstreifens aufs Banner geschrieben hat. In einem genossenschaftlichen Verbund wurde ein ungewöhnliches Beteiligungsmodell entwickelt, das sowohl die Bürger – die Mitglieder des Mörchenpark e. V. – als auch die Investoren konstruktiv einbezieht. Beide Seiten besitzen das Stimmrecht.
Eine 2012 gegründete „Genossenschaft für urbane Kreativität“ (GuK) bündelt die „Potentiale zur Unterstützung kreativer Stadtentwicklungsideen“, realisiert „nachhaltige Beteiligungs- und Geschäftsmodelle“ und hat das Einspruchsrecht bei der Verwertung von Grundstücksrechten. Jedes Mitglied der Genossenschaft hat eine Stimme, unabhängig davon, wie viele Kapitalanteile es hält, wobei das Minimum der Einlage 25.000 Euro beträgt. Doch wie lässt sich garantieren, dass das Gelände nicht trotzdem – sei es in Folge von Geldnot oder politischer Querelen – wieder gewinnbringend veräußert wird?
Sicherheit durch Erbpacht
Hierzu kooperiert die Genossenschaft mit der Schweizer „Stiftung Abendrot“, einer Pensionskasse, welche die ihr anvertrauten Vorsorgegelder nach ethischen, ökologischen und sozialen Kriterien anlegt. In einem Bieterverfahren konnte die Stiftung das Holzmarkt-Areal 2012 erwerben, um dann der Holzmarkt-Genossenschaft einen Teil des Grundstücks in Erbpacht zu übertragen. „Das ermöglicht auch dem Mörchenpark, nicht nur kurzfristig, sondern mittel- und sogar langfristig zu planen“, erklärt Janna Schlender.

Für die Erschließung des Geländes ist die Architektengemeinschaft Holzmarkt (carpaneto.schöningh/ Hütten & Paläste/ Urban Affairs) zuständig. Auf der anderen Seite der S-Bahntrasse, die das Areal durchquert, ist das „Eckwerk“ geplant, ein Technologiezentrum für Forscher, Studenten, Gründer und Unternehmer aus aller Welt. Dort werden u.a. studentisches Wohnen und Start-ups auf innovative Weise zusammengebracht. Auf dem Dach des Gebäude-Ensembles ist auf einer Fläche von 2.000 qm professionell betriebene Landwirtschaft mit einem Rundweg vorgesehen – in Kombination mit einer Fischzucht. Zudem werden neben dem legendären Club Katerholzig ein Restaurant – unter einem Hügel direkt an der Spree – und ein Hotel das Areal ergänzen. Eine eigene Kita, die in Kürze eingeweiht wird, soll ein familienfreundliches Umfeld gewährleisten.
Doch welche Kinder erhalten letztendlich die begehrten Plätze und wer wird in die Wohnungen, Studios und Gewerberäume an der Spree einziehen? Wer garantiert, dass – wie ausdrücklich gewünscht – auch Künstler und Kreative sich hier ansiedeln können? Und wie kann erreicht werden, dass es hier nicht zu einer sozialen Selektion kommt, zur Gentrifizierung? Wird hier nicht auch das Geld regieren?
Ding Dong Dom
An der Basis, im Mörchenpark, regiert derzeit ganz offensichtlich die Kreativität, eine polyphone, unaufgeregt, freudige Vielfalt. So etwa im „Ding Dong Dom“, einem aus alten verglasten Fensterrahmen zusammengebauten Pavillon, in dem diverse Events stattfinden. Das Vereinshaus, ein „Hüttli“ vom Jahrmarkt, wurde dem Verein geschenkt, ein Friseur hat in einem weiteren Holzgebäude Einzug gehalten. Ein Culture Container wiederum bietet Raum für Film- und für Tonaufnahmen. Bei „Wort und Rüben“ etwa treten Poetry Slammer auf. „Sie genießen den unkonventionellen Ort“, so Schlender, „die Atmosphäre ist hier doch eine ganz andere als in großen Sälen“.
Entstanden ist hier alles in Marke Eigenbau – mit wenig Geld und viel Bürgerengagement. Und daran soll sich auch in Zukunft nichts ändern, erklärt Frank Schönert von Hütten @ Paläste. Der massive Einsatz von Eigenleistungen solle die Baukosten soweit reduzieren, dass günstig vermietbare Flächen entstünden, so der Architekt. „Darüber hinaus sollen die entstehenden Gebäude mittels selbstorganisierter An-, Um-, und Weiterbaubarkeit flexibel und langfristig entwickelbar sein und so den Erhalt von funktionalen und gestalterischen Freiräumen gewährleisten“. „Le Doerf“ lautet der Name dieser Stadt von unten, oder besser des Dorfes von unten. Nicht von ungefähr vermutlich fühlt man sich unmittelbar an ein weltberühmtes kleines gallisches Dorf aus der Comic-Literatur erinnert, das erfolgreich den Römern trotzt…
Ist das Holzmarkmodell zukunftsweisend für Berlin und andere Metropolen? An guten und erfahrenen Architekten mangele es sicherlich nicht, so Schönert. Auch gäbe es immer noch Grundstücke in Besitz der Stadt. Doch letztendlich sei die öffentliche Hand gefragt: „Wo sind die Köpfe bei Wohnungsbaugesellschaften und Politik, die überhaupt die Rahmenbedingungen für einen modernen, sozialen Wohnungsbau schaffen? Die Experimente wie am Holzmarkt und anderswo aufnehmen und in Ihren Strukturen weiterdenken?“ Vielleicht haben sie den Hahnenschrei noch nicht vernommen…
Weitere Informationen:
Genossenschaft für urbane Kreativität